Arme Vorstadt“: Frank­reichs Igno­ranz in bewegten Bildern

Datum
02. November 2023
Autor*in
Alicia Homann
Redaktion
politikorange
Thema
#Gen Z
Plattenbauten in den Banlieues.

Plattenbauten in den Banlieues.

Foto: unsplash/ Erkan-Kirdar
Immer wieder eska­lieren Konfron­ta­tionen zwischen den Jugend­li­chen der fran­zö­si­schen Banlieues und der Polizei. Matthieu Kasso­vitz stellte dies bereits in den 1990er Jahren in seinem Film La Haine“ dar.

Im Juni diesen Jahres wurde während einer Verkehrs­kon­trolle ein Jugend­li­cher durch einen Poli­zisten erschossen. Als Reak­tion wurden Müll­tonnen und Autos ange­zündet. Immer wieder eska­lieren Konfron­ta­tionen zwischen den Jugend­li­chen der fran­zö­si­schen Banlieues und der Polizei. Matthieu Kasso­vitz stellte dies bereits in den 1990er Jahren in seinem Film La Haine“ dar. Ein weiterhin hoch aktu­eller Film, der alar­mieren sollte.

Ein Mann fällt von einem Dach und während er fällt, denkt er: Jusqu‘ ici tout va bien, mais l’important n’est pas la chute c’est l’atterissage“ – Gerade hier ist es okay, aber wichtig ist nicht der Sturz, sondern der Aufprall auf dem Boden. Ihm ist bewusst, dass die Kata­strophe eintreten wird, sie ist unauf­haltsam, und trotzdem beruft er sich darauf, dass sie in diesem Moment noch nicht einge­treten ist. Gerade ist es okay. Damit beginnt La Haine“, ein Film von Matthieu Kasso­vitz aus dem Jahre 1995. Es ist die Geschichte, die Hubert (Hubert Kounde) seinen Freunden Vinz (Vincent Cassel) und Said (Said Tagh­maoui) erzählt. Sie beschreibt ihr Leben in den fran­zö­si­schen Banlieues. Es ist eine Warnung vor der Zukunft, die bis heute anhält. Die deut­sche Über­set­zung für das fran­zö­si­sche Wort Banlieues ist: der Vorort. Jedoch kreiert dies ein völlig falsches Bild. In Deutsch­land ist es ein Wort mit einer neutralen Asso­zia­tion, even­tuell eher positiv. Reichere Fami­lien wohnen meis­tens in Vororten, um dem Trubel der Stadt zu entkommen. Die fran­zö­si­sche Banlieue ist alles andere als reich. Es sind Wohn­viertel, die nach dem Zweiten Welt­krieg in der Nähe von Indus­trie­stand­orten aus dem Boden gestampft wurden, um die Wohnungsnot zu bekämpfen. Die Bewohner*innen mussten fest­stellen, dass die Gebäude bauliche Mängel hatten und schlecht an den öffent­li­chen Nahver­kehr ange­bunden waren. Wer die finan­zi­ellen Mittel hatte, bevor­zugte andere Viertel. Anschlie­ßend zogen vor allem Einwander*innen aus den ehema­ligen fran­zö­si­schen Kolo­nien dorthin. Schließ­lich brei­tete sich in den 1970er Jahren eine hohe Arbeits­lo­sig­keit aus, aufgrund der Wirt­schafts­krise und der Deindus­tria­li­sie­rung. Bis heute ergeben Statis­tiken des natio­nalen fran­zö­si­schen Statis­tik­in­sti­tuts, dass in den Banlieues eine Arbeits­lo­sig­keit von 18 % herrscht. Doppelt so hoch wie im Rest des Landes. 30 Akti­ons­pläne gab es bereits, um diese Umstände zu ändern. Keiner hat funk­tio­niert. Der amtie­rende Präsi­dent Emma­nuel Macron kündigte 2016 seine Präsi­dent­schafts­kan­di­datur in einem Ausbil­dungs­zen­trum für Jugend­liche in einem Pariser Vorort an. Er wollte ein Zeichen setzen, Hoff­nung verbreiten. Bürgermeister*innen und Expert*innen arbei­teten zusammen den Akti­ons­plan Bericht Borloo„aus, dieser kam nie zur Ausfüh­rung. Statt­dessen wurde zu einem altbe­währten Mittel gegriffen: mehr Polizei und mehr Lehrer*innen. Nachdem im Juni 2023 ein 17-Jähriger von Poli­zisten erschossen worden war, brannten wieder Autos.

Fusion von Kunst und Zustands­dar­stel­lung

Matthieu Kasso­vitz hörte im April 1993 im Radio, dass der junge Fran­zose Makome M’Bowole in Poli­zei­ge­wahrsam starb. Er schloss sich umge­hend Protesten an, wie er im Jahre 2020 dem Guar­dian“ sagte, und begann noch am glei­chen Tag mit dem Skript von La Haine“. Es war der erste Film, der über die Banlieues berich­tete und damit inter­na­tio­nale Aufmerk­sam­keit erregte, beson­ders aber in Frank­reich, auch bei den seriösen Medien.

Der Film ist geprägt von Gewalt. Viele Über­blenden in die nächste Szene sind verbunden mit einem Akt der Gewalt, beispiels­weise Vinz, der gegen einen Boxsack schlägt. Zum Einstieg sehen wir eine Nahauf­nahme von Saids Gesicht, dann wech­selt das Bild zu einer Totalen von Poli­zisten, die vor ihrem Revier stehen. Ganz klar, ein Gegen­über­stehen, ein Warten darauf, wer zuerst angreift. Einer gegen Viele. Die Polizei reprä­sen­tiert den fran­zö­si­schen Staat und seine Ableh­nung gegen fran­zö­si­sche Staats­bürger wie Said, Hubert und Vinz. Robert Castel (Sozio­loge) beschreibt dies in seinem Buch Nega­tive Diskri­mi­nie­rung, Jugend­re­volten in den Pariser Banlieues so: Die meisten Bewohner*innen der Banlieues sind fran­zö­si­sche Staats­bürger, fühlen sich jedoch nicht so und werden auch nicht so behan­delt.“

Alle drei sind keines­wegs sympa­thi­sche Charak­tere. Sie erwähnen Frauen meist im sexu­ellen Kontext. Auch zeigen sie sich nicht soli­da­risch mit anderen Menschen, wie zum Beispiel einer Bett­lerin, die sie um Geld bittet. Versuchs doch mal mit Arbeit wie wir anderen auch!“, ist Saids Reak­tion. Jedoch ist unklar, ob einer der drei über­haupt eine Arbeit hat. Das Trio steht für die Vielen. Die Vielen, die vom Staat igno­riert werden, die nicht zum fran­zö­si­schen Wir“ gehören.

Eine Szene aus dem Film, die von Filmkritiker*innen immer wieder positiv hervor­ge­hoben wird, ist die Kame­ra­fahrt aus dem Fenster eines DJs in den Banlieues. Matthieu Kasso­vitz ist über­zeugt vom Edutain­ment, eine Wissens­ver­mitt­lung auf spie­le­ri­sche Art und Weise. Er nutzte hierfür den Hiphop. Der DJ spielt La Haine“ von Cut Killer, ein Song, der über den Film hinaus sehr bekannt ist. Die Kamera startet hinter ihm und fliegt“ dann aus dem Fenster hinaus, über das Banlieue hinweg. So kann die zuschau­ende Person aus der Vogel­per­spek­tive wahr­nehmen, dass dieses Viertel nur aus Wohn­blö­cken besteht und es wenig bis gar keine Infra­struktur gibt, die der Frei­zeit­ge­stal­tung oder Erho­lung dient. Es ist frag­lich, wie diese Aufnahmen über­haupt entstanden sind, Drohnen gab es zu dem Zeit­punkt noch nicht.

Über den ganzen Film hinweg wird stark mit der Kamera gear­beitet. Immer wieder gibt es harte Wechsel von der Vogel­per­spek­tive in die Nahauf­nahme. Diese Extre­mität unter­streicht die Gewalt, das Haupt­thema des Filmes. Auch betrachten wir die Figuren oft aus einem Weit­winkel, sie wirken so sehr viel kleiner und verloren.

La haine„s kleiner Bruder

Ein Film, der 2019 in Cannes urauf­ge­führt wurde und dort den Preis der Jury gewann, orien­tierte sich stark an La haine“. Ladj Lys Die Wütenden“ verar­beitet die Erfah­rungen des Regis­seurs aus den Banlieues. Beson­ders die Kame­ra­ar­beit erin­nert an den Klas­siker aus den 1990ern. Immer wieder fliegt die Drohne einer der Figuren über die Banlieue und zeigt so auch aus der Vogel­per­spek­tive die infra­struk­tu­rellen Miss­stände.

Der extreme Wechsel zwischen Vogel­per­spek­tive und Nahauf­nahme wird auch hier genutzt und durch eine wacke­lige Hand­ka­mera ergänzt. Der Film ist eine Spur aggres­siver, spie­gelt er den aktu­ellen Ton wider: Es hat sich nichts verän­dert, wenn, dann ist es noch schlimmer geworden. Quasi ein Sequel. Ebenso wie bei La haine“ ist die Kata­strophe unaus­weich­lich. Auch hier steht die Polizei für den Staat. Jedoch erleben wir die Situa­tion aus ihrer Perspek­tive. Sie ist chan­cenlos und muss mit den mitt­ler­weile herr­schenden Clans in den Vier­teln zusam­men­ar­beiten, um in irgend­einer Art und Weise einen Einfluss zu haben.

Alles in allem tritt die Polizei als Moderator*innen zwischen den verschie­denen Parteien auf und versu­chen so die Konflikte zu entschärfen. Die gemein­same Sprache ist die Gewalt. Die Bewohner*innen repro­du­zieren die Macht­struk­turen, von denen sie unter­drückt werden. Am Ende der Nahrungs­kette stehen die Kinder und Jugend­li­chen. Sie haben keine Stimme. Die Konse­quenz des nicht Zuhö­rens der Erwach­senen, der Menschen in Macht­po­si­tion, zeigt sich am Ende. Das Viertel geht unter in der Wut der Kinder.

Beide Filme sind Zustands­dar­stel­lungen, die einen wach­rüt­teln sollen. Sie zeigen die unaus­weich­liche Kata­strophe, die eintritt, wenn einem großen Teil der Bevöl­ke­rung nicht zuge­hört wird. Matthieu Kasso­vitz zeich­nete bereits in den 1990er Jahren eine unheil­volle Prognose für die Banlieues. Es ist frag­lich, ob ihr demnächst ein Ohr geschenkt wird, oder ob La haine“ gegen­wärtig bleibt.


Quellen zum Weiter­lesen


Dieser Artikel ist im Rahmen der offenen Redak­tion entstanden. Bei Fragen, Anre­gungen und Inter­esse könnt ihr uns gern eine Mail schreiben: redaktion@​jugendpresse.​de


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