Zu Besuch in einer Substi­tu­ti­ons­praxis

Datum
15. September 2020
Autor*in
Lukas Hinz
Redaktion
politikorange
Themen
#allaboutdrugs 2021 #Leben
kristine-wook-E1_RW3HIbUw-unsplash

kristine-wook-E1_RW3HIbUw-unsplash

Die Asklepios Substitutionsambulanz in Hamburg-Altona ist eine Ambulanz der etwas anderen Art. I Foto: Kristine Wook/Unsplash

Diamor­phin ist reines Heroin. In Substi­tu­tio­n­am­bu­lanzen wird dieses Abhän­gig­keits­er­krankten kontrol­liert verab­reicht. Wie das funk­tio­niert, hat sich poli­ti­ko­range-Redak­teur Lukas Hinz in der Askle­pios Substi­tu­ti­ons­am­bu­lanz Hamburg-Altona ange­schaut.

Diamor­phin hat eine stark schmerz­stil­lende Wirkung. Bei sach­ge­rechtem Konsum beschä­digt das reine Heroin erstaun­li­cher­weise weder Niere, Leber oder das Knochen­mark. Was dagegen relativ schnell eintritt: eine psychi­sche und körper­liche Abhän­gig­keit. Daher sind die Hürden, um an eine kontrol­lierte Diamor­phin­ab­gabe zu gelangen, relativ hoch: Bekommen kann es, wer über 23 Jahre alt ist, bereits fünf Jahre lang nach­weis­lich opiat­ab­hängig ist, unter körper­li­chen oder psychi­schen Begleit­erkran­kungen leidet, welche durch die Einnahme verschuldet sind, und mindes­tens zwei erfolg­lose Thera­pien hinter sich hat.

Ein ganz normaler Tag

Als ich in die Hamburger Diamor­phi­n­am­bu­lanz komme, werde ich freund­lich von der Praxis­mit­ar­bei­terin Bettina* begrüßt. Sie sitzt an der Anmel­dung und orga­ni­siert den Check-In“ der Patient*innen. Diese machen an der Anmel­dung einen kurzen Atem-Alko­hol­test und erhalten dann ihre Warte­nummer. Eigent­lich läuft alles nach Plan. Doch dann kommt da dieser eine Patient und tritt an die Anmel­dung. Er wird mir dauer­haft in Erin­ne­rung bleiben, denn er soll kein Diamor­phin, sondern Methadon erhalten. Doch es gibt ein Problem, denn er ist zu früh. Er erklärt Bettina, dass er jetzt einen Job hat und deshalb früher zur Ausgabe kommen müsse, damit er pünkt­lich bei der Arbeit sei.

An sich sei das auch ganz okay, erklärt mir Bettina: Der Patient muss einen entspre­chenden Nach­weis mitbringen, sei es eine Beschei­ni­gung des*der Arbeitgebers*in oder den Arbeits­ver­trag.“ Das sehe das Hygiene-Konzept der Substi­tu­ti­ons­am­bu­lanz vor, da Substi­tu­ierte per se als Hochrisikopatient*innen gelten. Zwecks Infek­ti­ons­schutz erhalten die Patient*innen hier deshalb verschie­dene Ausga­be­zeiten.

Ich begleite Bettina weiter und schaue mir alles genau an. Läuft alles nach Plan, erklärt sie mir, dürfen die Patient*innen nach erfolgter Regis­trie­rung in den Warte­raum. Sobald ihre Nummer auf dem Display erscheint, geht es in den soge­nannten Appli­ka­ti­ons­raum. Bevor ich dort eintrete, begegnet mir wieder der Patient von vorhin. Bettina erklärt ihm nochmal, dass er erst um 9:30 Uhr zur Methadon-Ausgabe kommen darf und macht einen Eintrag in seine Patient*innen-Akte. Er ist wieder­holt zu früh in die Ambu­lanz gekommen und hat keinen Nach­weis vorge­legt, dass er früher kommen muss. Das wird hier als Fehl­ver­halten gewertet. Nun beob­achte ich Bettina, wie sie seine Verstöße einträgt. Das muss sie machen, damit die Kolleg*innen im Ernst­fall“ Bescheid wissen.

Warten bis zur Stra­ßen­taug­lich­keit“

Nach und nach kommen immer mehr Menschen zur Anmel­dung und auch die Beleg­schaft des Appli­ka­ti­ons­raumes ändert sich fast minüt­lich. Bettina bringt mich dorthin. Hier wird den opiat­ab­hän­gigen Menschen Heroin in reiner Diamor­phin­form ausge­geben. Nicht nur das. Im Appli­ka­ti­ons­raum erhalten die Patient*innen auch benö­tigte Begleit­me­di­ka­mente wie Blut­druck­mittel, wenn sie nicht in der Lage sind, an die regel­mä­ßige Einnahme zu denken.

Direkt stechen mir die Praxis­mit­ar­bei­te­rinnen Susanne* und Louisa* ins Auge: Sie händigen gerade eine Spritze an die Patient*innen aus. Bei der Verab­rei­chung bin ich jedoch nicht dabei. Etwas Privat­sphäre soll immerhin gewähr­leistet werden. Aber, nur etwas. Denn Susanne sitzt hinter einer Plexi­glas-Scheibe und beob­achtet die Patient*innen konti­nu­ier­lich während der Appli­ka­tion, um die sichere Vergabe zu gewähr­leisten und ein Heraus­schmug­geln des Diamor­phins zu verhin­dern. Ich beob­achte sie kurz, irgendwie fühlt sich das doch etwas seltsam an. Ein Mann liegt auf einer Liege, er hat sich das Diamor­phin in den Ober­schenkel gespritzt und eine Posi­tion einge­nommen, die etwas seltsam und verkrampft auf mich wirkt. Er verharrt kurz in dieser Pose und bleibt dann liegen. Susanne, die das Geschehen stets im Griff zu haben scheint, reagiert blitz­schnell und bittet ihn, sich langsam wieder fertig zu machen. Langes Verweilen ist aus aktu­ellem Anlass – ganz im Zeichen der Corona-Pandemie – nicht so gern gesehen.

image00001

Der Applikationsraum: Hier dürfen sich vier Patient*innen gleichzeitig – unter Aufsicht – Diamorphin spritzen. I Foto: Lukas Hinz/Jugendpresse Deutschland e.V.

Susanne zückt ein kleines Kärt­chen, auf dem sein Name und eine Uhrzeit steht. Das drückt sie ihm in die Hand und erklärt, damit solle er sich in die Anmel­de­zone setzen. Gehen darf er, sobald die Zeit, die auf der Karte steht, vorüber ist. Susanne erklärt: Das ist die Zeit, zu der er wieder stra­ßen­taug­lich sein sollte“. Stra­ßen­taug­lich sein, das kenne ich vom Auto­fahren. Aber als Begriff dafür, wann es nach einer kontrol­lierten Medi­ka­men­ten­ab­gabe in einer Arzt­praxis zumutbar ist, wieder zu gehen – das ist mir neu. Norma­ler­weise sind die Patient*innen deut­lich länger in der Ambu­lanz anzu­treffen, erklärt mir die Ober­ärztin später. Wie lange die Patient*innen in der Ambu­lanz bleiben, hängt vom phar­ma­ko­lo­gi­schen Halb­zeit­wert und der tages­form­ab­hän­gigen Verträg­lich­keit des Medi­ka­mentes ab.

Nach der Diamor­phin­aus­gabe reinigt Susanne den Appli­ka­ti­ons­raum. Gerade während der Corona-Pandemie muss hier noch mehr auf die Hygiene geachtet werden als sonst. Während­dessen geht die Ausgabe von Methadon und Polamidon weiter. Hier sitzt Lydia. Sie kennt die Patient*innen, die täglich kommen – sehr gut sogar. Mitt­ler­weile hat sie die meisten Namen drauf. Sie ruft im Rechner die Personen auf, schaut nochmal, ob irgend­welche Bemer­kungen in der Patient*innen-Akte sind und fragt noch einmal nach der Dosis.

image00006

Im Notfallraum werden schwere Verläufe der Applikation behandelt. I Foto: Lukas Hinz/Jugendpresse Deutschland e.V.

Einmal Methadon bitte!“

Wenn alles passt, klickt sie am Bild­schirm auf Medi­ka­ment ausgeben“. Und schon wird das Methadon in eine Plas­tik­schale gepumpt. Darin befindet sich bereits in etwas Wasser gelöster Wald­meister-Sirup. Louisa, die die Ausgabe aus dem Hinter­grund beob­achtet, erklärt mir, warum Methadon mit Wald­meis­ter­sirup gemischt wird: Das Methadon wird hier mit Wald­meis­ter­sirup und Wasser versetzt, um das Heraus­schmug­geln, das Spritzen oder die Weiter­gabe des Wirk­stoffs zu verhin­dern.“ Außerdem besteht laut Louisa eine gesetz­liche Pflicht, orale Substi­tute in solcher Form zu vergeben, dass sie nicht intra­venös gespritzt werden könnten.

Danach beob­achte ich, wie ein Patient eine Urin­probe abgeben muss. Lydia, eben­falls Mitar­bei­terin der Praxis, gibt ihm einen Becher und er verlässt die Ausgabe in Rich­tung der Herren-Toilette. Ich bin etwas über­rascht, doch Lydia erklärt mir den Hinter­grund: Wir über­prüfen regel­mäßig, ob die Patient*innen einen Neben­konsum von anderen Drogen, wie Cannabis oder andere Substanzen haben.“

Nebenbei bereitet ein Kollege im Raum nebenan die Spritzen für die nächste Diamor­phin­aus­gabe vor. Hier sitzt Nils, er ist gerade dabei die letzten Spritzen aufzu­ziehen. Er erklärt mir, dass alle Empfänger*innen , die in der Patient*innen-Akte einge­tra­gene Menge in eine Spritze aufge­zogen bekommen und diese dann mit dem jewei­ligen Namen versehen wird.

Es geht nicht nur um den Stoff

In seltenen Fällen kann nach der Appli­ka­tion eine Atem­de­pres­sion oder ein Krampf­an­fall ausge­löst werden. Sobald das passiert, werden die Patient*innen in einen Notfall-Raum gebracht – dort wird Sauer­stoff und ggf. ein Antidot (Anm. d. Red: Ein Gegen­mittel) verab­reicht. Sollte dieser Fall tatsäch­lich eintreten, ist diese Person das Haupt­merk Nummer 1 der dienst­ha­benden Ärzt*innen und wird vor der nächsten Ausgabe noch einmal gründ­lich durch­ge­checkt. Gege­be­nen­falls wird die Dosis dann für das nächste Mal auch redu­ziert.

Doch nicht nur das Verab­rei­chen der Substanzen Diamor­phin, Methadon oder Polamidon ist Teil der Behand­lung, sondern auch die psycho­so­ziale Betreuung der Patient*innen. Chris­toph* und Markus*, die beiden Sozi­al­ar­beiter sind hier die Ansprech­partner für alle Patient*innen.

Durch einen indi­vi­duell ange­passten Betreu­ungs­plan unter­stützen sie die Patient*innen zum Beispiel bei der Suche nach einem Wohn­sitz, vermit­teln Thera­pien oder helfen bei Terminen vor Ämtern, Gerichten und anderen Einrich­tungen sowie beim Wieder­ein­stieg in Schule, Arbeit oder Ausbil­dung. In der ASKLE­PIOS-Substi­tu­ti­ons­am­bu­lanz hat man eben­falls eine Koope­ra­tion mit dem Verein Jugend hilft Jugend Hamburg e.V., der mit zwei erfah­renen Sozialarbeiter*innen bei allen Sachen unter­stützt.

Mein Besuch in der Substi­tu­ti­ons­am­bu­lanz hinter­lässt mich nach­denk­lich. Ich stelle fest, dass unsere Gesell­schaft Drogenkonsument*innen viel zu stark abstem­pelt“ – schließ­lich sind es nur Menschen, die Drogen konsu­mieren. Genau dieser Konsum wird krass stig­ma­ti­siert, während Alkohol zu trinken oder Rauchen gesell­schaft­lich akzep­tiert wird.

Es ist zu einfach zu sagen, dass Menschen an diesem Ort Drogen verab­reicht werden. Statt­dessen wird hier Menschen geholfen: in ein gere­geltes Leben, frei von Beschaf­fungs­kri­mi­na­lität und dem stän­digen Verlangen, die Sucht zu befrie­digen. Dazu wird diesen Menschen ein Medi­ka­ment verab­reicht. Ich lasse den Tag nochmal Revue passieren und denke: Dafür sollte die Abgabe schon verein­facht werden. Doch solange das Stigma der Menschen nicht weicht, bin ich mir sicher, dass sich auch unsere Drogen­po­litik nicht so schnell verän­dern wird.

* Hinweis der Redak­tion: Die Namen der betei­ligten Personen wurden geän­dert.


Empfohlene Beiträge

Werde Teil unserer Community

Entdecke spannende Geschichten, vernetze dich mit anderen jungen Journalist:innen und gestalte die Medienlandschaft von morgen mit. Melde dich jetzt an und bleibe immer auf dem neuesten Stand.

Wehrpflicht Redaktion Gruppenbild