Was ist meine Stimme wert? Antworten auf die Frage, warum Menschen nicht wählen 

Datum
27. Februar 2025
Autor*in
Lena Herrmann
Redaktion
politikorange
Thema
#BTW2025
Beitragsbild_Lena

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Menschen auf der Straße zu fragen, ob sie wählen gehen und wen sie wählen – das ist in der Zeit vor den Bundes­tags­wahlen normal. Menschen zu fragen, ob sie nicht wählen gehen, stößt dagegen bei vielen auf Verwir­rung. Natür­lich gehen sie wählen oder waren schon, ist doch wichtig, gerade jetzt. Trotzdem lassen sich in Berlin-Mitte Menschen auftreiben, die nicht wählen. Das erfor­dert aber Geduld und so einige Gespräche auf Berlins Straßen. 

©️ Carlo Rückamp / Jugend­presse Deutsch­land e.V.

Menschen auf der Straße zu fragen, ob sie wählen gehen und wen sie wählen – das ist in der Zeit vor den Bundes­tags­wahlen normal. Menschen zu fragen, ob sie nicht wählen gehen, stößt dagegen bei vielen auf Verwir­rung. Natür­lich gehen sie wählen oder waren schon, ist doch wichtig, gerade jetzt. Trotzdem lassen sich in Berlin-Mitte Menschen auftreiben, die nicht wählen. Das erfor­dert aber Geduld und so einige Gespräche auf Berlins Straßen. 

Enttäuscht von der Gesell­schaft 

Da findet sich zum Beispiel der 85-jährige Herr Fischer*, der an einer Bushal­te­stelle sitzt und sagt: 

Die Gesell­schaft ist kaputt. Die Menschen, die Politik, das inter­es­siert mich alles nicht. Ich haue ab in den Amazonas.“ 

Wahlen, die seien für ihn über­haupt nicht mehr rele­vant, sagt er und erzählt weiter. Von seinen Plänen für den Amazonas. Die Menschen zerstörten alles, ange­fangen bei der Umwelt. 

In den 85 Jahren, die Fischer schon lebt, haben sich die Art zu leben und zu arbeiten in Deutsch­land stetig verän­dert. Unsere Gesell­schaft sei beispiels­weise viel indi­vi­du­eller geworden. Verän­dert sich eine Gesell­schaft sehr stark entgegen der Werte und Vorstel­lungen eines Menschen, wird es schwierig für den Einzelnen, sich mit ihr zu iden­ti­f­zieren. Wenn ein Mensch sich dann nicht mehr zuge­hörig fühlt, kann er die Gesell­schaft als kaputt wahr­nehmen, erklärt Dr. Robert Grimm, der Leiter der Politik- und Sozi­al­for­schungs­ab­tei­lung des Forschungs­un­ter­neh­mens Ipsos in Berlin. Das könnte die Enttäu­schung von Fischer erklären, meint Poli­tik­wis­sen­schaftler Thorsten Winkel­mann von der Fried­rich-Alex­ander-Univer­sität Erlangen-Nürn­berg dazu. Es sei es für ihn nahe­lie­gend, sich komplett abzu­wenden vom bestehenden demo­kra­ti­schen Status quo und zu glauben, woan­ders sei es vermeint­lich besser als hier“. 

Vertrauen in den eigenen Einfluss durch demo­kra­ti­sche Wahlen bröckelt 

Bei einem Gespräch zwischen zwei Tisch­ten­nis­par­tien erzählt Herr Abbas*, Ende 20

Bis vor zwei drei Jahren hab ich SPD gewählt, dann hab ich mich auch von denen distan­ziert. Das mit den Wahlen ist doch nur so, damit die Bürger“ denken, sie könnten wählen. Da wird doch was gedrib­belt im System. Eigent­lich gewinnt der, der gewinnen soll. Wenn die CDU gewinnen soll, gewinnt die CDU; wenn die AfD gewinnen soll, gewinnt die AfD.“ 

Ganz absurd ist diese Vorstel­lung von mani­pu­lierten Wahlen nicht, meint Grimm von Ipsos. Denn wir sind im Alltag immer wieder damit konfron­tiert, dass Nach­richten absicht­liche Falsch­mel­dungen verbreiten oder poli­ti­sche Akteure Wahlen tatsäch­lich mani­pu­lieren. Fälle wie der Brexit oder russi­sche Desin­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen bestä­tigen diese Befürch­tung. Völlig frei von Einflüssen aus den Medien, der Familie oder von Freunden ist die eigene Meinungs­bil­dung nie. Aber freier Meinungs­bil­dung im demo­kra­ti­schen System zu miss­trauen, kann sich ins Extreme stei­gern. Man müsse im Fall des Tisch­ten­nis­spie­lers von einem Vertrau­ens­ver­lust gegen­über demo­kra­ti­schen Struk­turen spre­chen, folgert Grimm. 

Das Gefühl von Macht­lo­sig­keit spielt bei diesem Vertrau­ens­ver­lust eine große Rolle. Egal, wen man wählt, es ist wirk­lich schwierig, mit seiner Stimme einen sicht­baren poli­ti­schen Einfluss zu haben“, erklärt Robert Grimm. Wer nicht mehr glaubt, dass die eigene Stimme eine Wahl beein­flussen kann, der sucht Erklä­rungen außer­halb der demo­kra­ti­schen Wahlen. Dann befinden wir uns im weiten Spek­trum der Verschwö­rungs­ideo­lo­gien. Ihnen könnten demo­kra­ti­sche Parteien wenig entge­gen­setzen. 

Wählen wird zu einer situa­tiven Entschei­dung 

Anders steht es um den 32-jährigen Herrn Schulz*. Er schaut den Tisch­tennis-Spie­lern zu und trinkt aus einer Dose. Er blickt zu Boden, während er spricht: 

Ich hab dafür gerade keinen Kopf. Mich beschäf­tigen andere Themen – der Tod meiner Mutter zum Beispiel.“ 

Damit vertritt Schulz laut Grimm ein häufiges Phänomen: Wer nicht wählen geht, lehnt Wahlen nicht unbe­dingt pauschal ab. Viel­mehr gehe es darum, in welchen Lebens­um­ständen ein Mensch sich befindet. Ob man eben einen Kopf für die Wahl hat. Das kann aus den verschie­densten Gründen nicht der Fall sein. Der eine bricht sich ein Bein, andere sind krank, der nächste hat einen Kater, weil er am Tag davor zu stark gefeiert hat“, zählt Robert Grimm einige von vielen Gründen auf. Schulz hat aber nicht nur einen Kater, sondern seine Mutter verloren. Gerade in dem sehr kurzen Wahl­kampf mag da kaum Zeit und Raum gewesen sein, sich ernst­haft mit den verschie­denen Parteien ausein­an­der­zu­setzen. 

Wahlen als Kosten-Nutzen-Rech­nung 

Dass persön­liche Umstände Prio­rität vor den Wahlen haben, war nicht immer so, sagt Poli­tik­wis­sen­schaftler Thorsten Winkel­mann. Der Wahl­gang war früher eine staats­po­li­ti­sche Pflicht bis in die 90er Jahre. Das war eine intrin­si­sche Moti­va­tion, dass jeder zur Wahl geht.“ Heute stellten viele Menschen eine Kosten-Nutzen-Rech­nung an, wenn es um die Wahlen geht. Die Ursa­chen für eine Nicht-Wahl­ent­schei­dung hat man sogar schon mit schlechtem Wetter in Zusam­men­hang gebracht“, bringt Winkel­mann als Beispiel. Ist am Wahl­sonntag schlechtes Wetter, gingen weniger Menschen zur Wahl. Dieses Phänomen steht stell­ver­tre­tend dafür, dass viele abwägen ob sich die persön­li­chen Kosten mit dem Nutzen der eigenen Stimme decken. Dazu passt die Frage, die der Herr Schulz ganz am Ende des Gesprächs stellt: 

Was hat sich in den 32 Jahren meines Lebens denn verän­dert?“ 

Hier wird Schulzes Frage nach dem Wert der eigenen Stimme sichtbar. Und seine resi­gnierte Fest­stel­lung: meine Stimme kann doch eh nichts verän­dern. Gleich­zeitig ist er damit gedank­lich bei der zentralen Moti­va­tion für demo­kra­ti­sche Wahlen ange­kommen. Sie sollen mit jeder Stimme etwas verän­dern und die poli­ti­sche Land­schaft mitge­stalten. 

Nach der Einschät­zung von Politik- und Sozi­al­for­scher Robert Grimm ist die aktu­elle Wahl zum 21. Bundestag in dieser Hinsicht beson­ders gewesen. Wie die Wahl ausgeht und welche Regie­rungen möglich werden, sei diesmal nicht so leicht vorher­sehbar gewesen. So entsteht das Gefühl, mit der eigenen Stimme etwas verän­dern zu können. Außerdem haben diesmal starke Pola­ri­sie­rungen die Wahl geprägt. Klima­neu­tra­lität vs. Wirt­schaft. Neoli­beral vs. Sozi­al­staat. Rechts-popu­lis­tisch vs. links-progressiv. Man konnte laut Grimm leichter als sonst erkennen, wofür man die eigene Stimme einsetzt. Der Nutzen zur Wahl zu gehen, konnte so diesmal in der Kosten-Nutzen-Rech­nung über­wiegen. 

Bewusst ungültig wählen als Sonder­fall 

Trotzdem gibt es Menschen, die sich von den vorhan­denen Optionen nicht ange­spro­chen fühlen. 

Seit ich wählen darf, wähle ich ungültig. Die Politik, das inter­es­siert mich einfach alles nicht.“ 

Das erzählt Frau Meiners*, Mitte 50, auf dem Pots­damer Platz neben den Resten der Mauer, die Deutsch­land einmal geteilt hat. Gerade in der DDR haben Menschen die Erfah­rung gemacht, dass ihre eigene Stimme nicht bedeutsam ist. Es gewann in jedem Fall die SED – mit in extremer Höhe mani­pu­lierten Zustim­mungs­raten. Ungültig zu wählen kann ein Ausdruck dieser Erfah­rung sein. Poli­tik­wis­sen­schaftler Winkel­mann benennt einen weiteren Hinter­grund dafür, bewusst ungültig zu wählen. Beispiels­weise rufe die Marxis­tisch-Leni­nis­ti­sche Partei Deutsch­lands regel­mäßig dazu auf, um mit demo­kra­ti­schen Mitteln Unzu­frie­den­heit mit dem System auszu­drü­cken. Wirk­lich gesi­cherte wissen­schaft­liche Infor­ma­tionen gebe es über bewusst ungül­tiges Wählen aller­dings nicht. 

Demo­kratie ist nicht passiv 

Diese vier Menschen und ihre mögli­chen Beweg­gründe sind nicht reprä­sen­tativ für die Nicht-Wähler:innen. Aber sie sind bei Weitem nicht die Einzigen, die ihre Stimmen nicht nutzen. Winkel­mann erklärt, es gebe ein Panorama an Zugängen für Poli­tik­en­thal­tung“. Seien es Menschen, die sich schlicht nicht um Politik scheren. Oder die, die unzu­frieden mit einer einzelnen Partei sind. Oder solche, die Demo­kratie nicht für funk­ti­ons­fähig halten. Es geht bis hin zu denen, die den Staat und die deut­sche Verfas­sung als solches ablehnen. 

Dennoch gilt laut Thorsten Winkel­mann: Eine grund­sätz­liche Beja­hung zum System Demo­kratie liegt in der großen Mehr­heit vor.“ Die Wahl­be­tei­li­gung bei der aktu­ellen Bundes­tags­wahl war so hoch wie seit den 90er Jahren nicht mehr. Die Wahl hat diesmal Millionen Nicht-Wähler:innen mobi­li­siert. Robert Grimm vom Markt­for­schungs­un­ter­nehmen Ipsos schätzt die Gesell­schaft vor allem im Kontext der Bundes­tags­wahl als außer­or­dent­lich demo­kra­tisch ein. Plura­lis­ti­sche Posi­tionen und sich im poli­ti­schen Konflikt auszu­tau­schen, seien essen­ziell in einer Demo­kratie. Im Rahmen dieser Wahl sind zudem viele Menschen auf die Straße gegangen. Sie seien durch die poli­ti­sche Debatte mobi­li­siert worden. Darauf kommt es laut Grimm an; dass Demo­kratie nichts Passives ist. 

*Die Namen in diesem Artikel sind verän­dert, um die Anony­mität der Menschen zu wahren. 


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