Viele Bekennt­nisse, Umset­zung frag­lich

Datum
10. September 2021
Autor*in
Moritz Müllender
Redaktion
politikorange
Themen
#tsuzamen 2021 #Politik
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Auf Nach­frage bekennen sich alle Bundes­tags­par­teien zur Förde­rung und zum Schutz jüdi­schen Lebens in Deutsch­land. Dafür haben sie verschie­dene Ideen – auch für die Zeit nach der Bundes­tags­wahl. In der Praxis zeigt sich jedoch: Da geht noch mehr.

Wahlbenachrichtigung

Wahlbenachrichtigung: Am 26. September wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Wird er auch die vielfältigen Interessen von Jüdinnen*Juden vertreten? | Foto: Andreas Lischka / Pixabay

Sich als jüdisch beken­nende Politiker*innen sind in der deut­schen Spit­zen­po­litik kaum sichtbar. Verein­zelt sind Jüdinnen*Juden, die sich entscheiden diesen Teil ihrer Iden­tität öffent­lich zu machen, in den Land­tagen und Stadt­räten vertreten. Eine von ihnen ist Karin Prien, Minis­terin für Bildung, Wissen­schaft und Kultur in Schleswig-Holstein. Sie habe lange mit sich gerungen, bevor sie sich als Jüdin bekannt habe, sagt sie im Inter­view mit der Jüdi­schen Allge­meinen. Ich wollte (…) nicht mit meinem Jüdisch­sein hausieren gehen, mich nicht darauf redu­zieren oder darüber defi­nieren lassen“. Mit aufkei­mendem Anti­se­mi­tismus in Frank­reich entwi­ckelte die 56-Jährige das Bedürfnis, über ihre Iden­tität zu spre­chen. Der Zentralrat der Juden in Deutsch­land kommen­tiert auf die poli­ti­ko­range-Anfrage, inwie­fern Jüdinnen*Juden in der deut­schen Politik sichtbar sind: Ob ein Poli­tiker selbst zu erkennen gibt, dass er jüdisch ist, ist seine indi­vi­du­elle Entschei­dung. Einige wollen über ihre fach­liche Kompe­tenz wahr­ge­nommen werden, nicht über ihre Zuge­hö­rig­keit zum Judentum“. Gleich­zeitig erhoffe sich der Zentralrat aber eine stär­kere Sicht­bar­keit jüdi­scher Politiker*innen. Das American Jewish Committee, eine jüdi­sche Orga­ni­sa­tion, die inter­na­tional gegen Anti­se­mi­tismus arbeitet, sagt im Deutsch­land­funk, dass leider mit Angriffen gerechnet werden müsse, wenn Jüdinnen*Juden in der Öffent­lich­keit stünden. Die Publi­zisten Ruben Gerc­zikow und Monty Avi Ott, die gemeinsam das Medi­en­pro­jekt Laumer Lounge bilden, kriti­sieren, dass jüdi­schen Akteur*innen meis­tens die Indi­vi­dua­lität und Selbst­stän­dig­keit abge­spro­chen werde. Sie werden meis­tens auf die Rolle als Repräsentant*in des Kollek­tivs redu­ziert. Und damit auf die Opfer­rolle. Doch jüdi­sches Leben ist viel­fältig und das spie­gelt sich bisher nur allzu wenig in der Politik wieder“, so die beiden Autoren.

Was sagen die Parteien?

Um sich ein Bild zu machen, was die Parteien explizit zu jüdi­schem Leben in Deutsch­land beitragen wollen, hat poli­ti­ko­range die Wahl­pro­gramme der Parteien für die Bundes­tags­wahl 2021 vergli­chen und deren Pres­se­teams kontak­tiert. Die SPD lieferte bis Redak­ti­ons­schluss keine Antwort auf eine Pres­se­an­frage. Union, SPD, Grüne, FDP und Linke bekennen sich in ihren Wahl­pro­grammen zum Judentum als inte­gralen Bestand­teil Deutsch­lands. Die AfD formu­liert das nicht, fordert aber – wie alle anderen Parteien auch – mehr Sicher­heit für Jüdinnen*Juden in Deutsch­land. Anti­se­mi­ti­scher Hetze – das betonen alle Parteien – gilt es entge­gen­zu­treten. Auf die Frage von welchen Gruppen diese Hetze ausgehen soll, unter­scheiden sich die Deutungen. Die Union will Anti­se­mi­tismus bekämpfen, egal, woher er kommt“, spricht jedoch ledig­lich Anti­se­mi­tismus von rechts­außen, links­außen oder von migran­tisch geprägten Milieus“ an. Im Mai erntete aber ein CDU-Kandidat in Thüringen – Hans-Georg Maaßen – Kritik. Er nutzte Begriffe, wie Globa­listen“ und Great Reset“, wie ARD Kontraste und Volks­ver­petzer berich­teten. Dafür attes­tiert ihm der thürin­gi­sche Verfas­sungs­schutz­prä­si­dent Stephan Kramer, er nutze anti­se­mi­ti­sche Codes“. Kanz­ler­kan­didat Laschet nahm Maaßen bisher in Schutz.

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Parlament: Der Sitzungssaal im Bundestag von oben. Jüdinnen*Juden schauen meist nur von außen hinein. Foto: Claudio Schwarz / Unsplash

Die Kanzler*innen- und Spitzenkandidat*innen von SPD, Grünen und Linken geben sich in ihren Inter­views mit dem Zentralrat der Juden im Juli und August 2021 selbst­kri­tisch und wollen Anti­se­mi­tismus auch in der eigenen Partei entschlossen entge­gen­treten. So verspricht Dietmar Bartsch (Die Linke) er werde vor eigener Haustür kehren“. Den Mitte-links Parteien wird teils vorge­worfen, dass israel­be­zo­gener Anti­se­mi­tismus immer wieder unter Partei­mit­glie­dern vorkommt, auch wenn deren Spitzenkandidat*innen sich im Inter­view klar davon distan­zieren. (Die Inter­views mit den Kandi­daten von Union und FDP fanden nach Redak­ti­ons­schluss am 15. (CDU) und 29. August (FDP) statt.)

Die FDP will Anti­se­mi­tismus überall bekämpfen und nennt im Programm die anti­is­rae­li­sche Kampagne BDS (Boykott, Desin­ves­ti­tionen, Sank­tionen), sowie anti­se­mi­ti­sche und isra­el­feind­liche Geschäfts­prak­tiken“ als Probleme. Auf die Polizei, Sicher­heits­be­hörden und Justiz als einen Pfeiler gegen Anti­se­mi­tismus, um mit jüdi­schen Gemeinden Sicher­heits­kon­zepte zu erar­beiten und Bera­tung zu ermög­li­chen, setzen SPD, Grüne, Union und FDP. Die Förde­rung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Initia­tiven, die gegen Anti­se­mi­tismus arbeiten, ist ein wich­tiger Aspekt für Grüne und SPD. Das finden auch die Linken, die aller­dings natur­gemäß keine Stär­kung der Sicher­heits­be­hörden fordern, sondern diese auf anti­se­mi­ti­sche Gesin­nungen hin prüfen wollen.

Auch der Zentralrat plädiert für eine nach­hal­tige Förde­rung und Unter­stüt­zung des Staates“ zivil­ge­sell­schaft­li­cher Initia­tiven. Ein entspre­chendes Demo­kra­tie­för­der­ge­setz, das solche Initia­tiven absi­chern sollte, schei­terte im März 2021 an der Union, die Sorgen hatte zu linke“ Orga­ni­sa­tionen zu unter­stützen, wie der Spiegel berich­tete. Die Union fordert in ihrem Wahl­pro­gramm den Besuch von KZ-Gedenk­stätten als Angebot für alle Schüler*innen.

Alle Bundes­tags­par­teien, außer die AfD, formu­lieren eine Verbes­se­rung der Aufar­bei­tung des Natio­nal­so­zia­lismus im Schul­un­ter­richt anzu­streben. Diese sieht Anti­se­mi­tismus als Problem, das nicht nur von Rechts­extre­misten, sondern zuneh­mend auch von juden- und isra­el­feind­li­chen Muslimen“ ausgehe. AfD-Bundes­spre­cher Jörg Meuthen sieht die Ursache für den erstar­kenden bzw. sicht­barer gewor­denen Anti­se­mi­tismus in einer kata­stro­phalen Einwan­de­rungs­po­litik“ und fordert in einer Pres­se­er­klä­rung auf der AfD Webseite vom Mai diesen Jahres deswegen mehr Abschie­bungen.

Die rechts­po­pu­lis­ti­sche Partei unter­stützt damit laut Zentralrat der Juden nicht die jüdi­sche Gemein­schaft. Die AfD (…) vertritt nach unserer Einschät­zung nicht unsere Inter­essen, weil sie an einer gegen Minder­heiten gerich­teten Spal­tung der Gesell­schaft arbeitet, zu Hetze im Internet beiträgt und Poli­tik­ver­dros­sen­heit schürt. Selbst wenn sich ihre Politik vor allem gegen Migranten und Muslime richtet, was völlig inak­zep­tabel ist, richtet sich eine solche Stim­mung auch ganz schnell gegen Juden. Und wer den Natio­nal­so­zia­lismus rela­ti­viert, kann sich nicht mehr glaub­würdig als Freund der jüdi­schen Gemein­schaft verkaufen“. Bei den anderen Bundes­tags­par­teien seien die Belange der jüdi­schen Gemein­schaft in Deutsch­land fest auf der Agenda“, sie stünden im Kampf gegen Anti­se­mi­tismus an der Seite von Jüdinnen*Juden.

Ausbau­fä­hige Pläne und frag­liche Umset­zung

Die Wahl­pro­gramme, wie auch die Antworten der Parteien, beziehen sich schwer­punkt­mäßig auf Anti­se­mi­tismus und Israel. Zum alltäg­li­chen jüdi­schen Leben in Deutsch­land abseits davon haben die Parteien tenden­ziell wenig zu sagen. Grüne und Linke wollen jüdi­sche Feier­tage in Deutsch­land veran­kern und so Termin­kol­li­sionen – etwa mit Examens­prü­fungen – auflösen. Im Inter­view mit dem Zentralrat gibt SPD-Kanz­ler­kan­didat Olaf Scholz zu, von der Proble­matik zum ersten Mal etwas zu hören, das Problem jedoch lösen zu wollen. Union, SPD und Linke möchten die finan­zi­elle Sicher­heit von Jüdinnen*Juden mit Flucht­er­fah­rung verbes­sern, die als soge­nannte Kontin­gent­flücht­linge“ nach Deutsch­land gekommen sind. Die Union will den Austausch mit Israel fördern und Grüne wie auch SPD sich für mehr Begeg­nungen in Deutsch­land zwischen Jüdinnen*Juden und nicht­jü­di­schen Menschen einsetzen.

AfD und Co. ausge­nommen“, sagt Jana*, eine 24-jährige junge Jüdin, wollten grund­sätz­lich die großen Parteien das jüdi­sche Leben unter­stützen und florieren sehen“. Der tatsäch­li­chen Umset­zung steht die Studentin, die sich nebenbei in dem Begeg­nungs­pro­jekt Meet a Jew enga­giert, aber skep­tisch gegen­über. Das Thema jüdi­sches Deutsch­land ist bei vielen im Wahl­pro­gramm, das ist natür­lich gerne gesehen, wie sich das konkret im ever­yday-life äußert, ist nochmal eine ganz andere Sache.“

Ob wir in Zukunft eine Gesell­schaft gestalten können, in der Jüdinnen*Juden sich vermehrt auch dazu entscheiden, in die Politik zu gehen und sich dort mit dem jüdi­schen Teil ihrer Iden­tität zu zeigen, entscheidet womög­lich eben jenes ever­yday-life. Die Parteien haben das Poten­zial, die Grund­lage zu schaffen, dass jüdi­sches Leben in Deutsch­land floriert. Sie zur Einhal­tung ihrer Verspre­chen zu drängen, scheint zunächst Aufgabe der Zivil­ge­sell­schaft zu bleiben. Gerzcikow und Ott fassen das Ziel nach einem Zitat des deutsch-jüdi­schen Philo­so­phen Theodor W. Adorno zusammen: Eine Gesell­schaft, in der jede*r ohne Angst verschieden sein kann“.

Info BDS: Die tages­schau beschreibt den BDS wie folgt: Die Abkür­zung BDS steht für Boykott, Desin­ves­ti­tion und Sank­tionen. Knapp 170 paläs­ti­nen­si­sche Orga­ni­sa­tionen hatten 2005 zu einem Boykott gegen Israel aufge­rufen. BDS-Akti­visten fordern Poli­tiker, Unter­nehmer, Künstler, Wissen­schaftler oder Sportler dazu auf, Auftritte, Inves­ti­tionen oder wissen­schaft­liche Koope­ra­tion abzu­sagen oder zu beenden“.

*Name auf Wunsch der Prot­ago­nistin geän­dert, ist der Redak­tion aber bekannt.


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