Schleswig-Holstein: Der nordi­sche Prag­ma­tismus wirkt

Datum
21. Februar 2025
Autor*in
Jette Greve
Redaktion
politikorange
Thema
#BTW2025
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Bei der knappen Abstim­mung im Bundestag zum 5‑Punkte-Plan der Union sind die frak­ti­ons­losen Abge­ord­neten in den Fokus der Öffent­lich­keit gerückt: einer von ihnen ist Stefan Seidler vom SSW aus Flens­burg. Er hat sich klar gegen den Plan posi­tio­niert. Doch was kann er als frak­ti­ons­loser Abge­ord­neter für seine Partei und die däni­sche Minder­heit im Bundestag errei­chen?
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Bild: Wahl­plakat des SSW in Flens­burg
© Jette Chiara Ihl / Jugend­presse Deutsch­land e.V.

Das gekühlte Flens steht bereit, auf einer Lein­wand sind Bilder vom Stra­ßen­wahl­kampf zu sehen: Menschen mit blau-gelben Mützen vor grauem Himmel, manchmal Regen. Es ist Wahl­kampf­schluss­spurt“ beim Südschles­wig­schen Wähler­ver­bund (SSW) in Flens­burg. Vier Wochen inten­siver Wahl­kampf liegen hinter der Partei, die in der letzten Legis­la­tur­pe­riode mit einem Abge­ord­neten im Bundestag vertreten war. Jetzt wollen sie das fort­setzen, wenn möglich sogar mit einem zweiten Mandat. Das Geheim­re­zept: der nordi­sche Prag­ma­tismus“, so der Landes­vor­sit­zende Chris­tian Dirschauer.

Bild: Das Flens steht bereit – Wahl­kampf­schusspurt“ in Flens­burg
© Jette Chiara Ihl / Jugend­presse Deutsch­land e.V.


Der SSW ist als Minder­hei­ten­partei aufgrund einer 70 Jahre alten Sonder­re­ge­lung zwischen Deutsch­land und Däne­mark von der 5%-Hürde befreit. Dennoch müssen etwa 40.000 Zweit­stimmen in Schleswig-Holstein erreicht werden, um in den Bundestag einzu­ziehen. Die Sperr­klau­sel­be­freiung wurde 1955 in den Bonn-Kopen­ha­gener Erklä­rungen fest­ge­halten. Diese Erklä­rung sichert der däni­schen Minder­heit in Deutsch­land und der deut­schen Minder­heit in Däne­mark Gleich­be­hand­lung mit der Mehr­heits­be­völ­ke­rung zu. So können die Minder­heiten beispiel­weise auch eigene Schulen und Kinder­gärten eröffnen. Eine weitere zentrale Rege­lung in der Erklä­rung ist die Beken­nungs­frei­heit. Diese besagt, dass die Zuge­hö­rig­keit zur Minder­heit eine subjek­tive Entschei­dung ist und nicht ange­fochten werden kann.


Der däni­sche Einfluss ist auch beim Wahl­kampf­schluss­spurt“ spürbar. Immer wieder ist Dänisch zu hören. Ganz nach dem skan­di­na­vi­schen Vorbild sind hier fast alle per Du. Doch der SSW hat sich längst zu einer Regio­nal­partei entwi­ckelt. Inzwi­schen wählen uns auch viele aus der Mehr­heits­be­völ­ke­rung, weil sie sehen, was für die Minder­heiten gut ist, ist für die Mehr­heits­be­völ­ke­rung hier auch gut.“, meint Stefan Seidler, Spit­zen­kan­didat des SSW. Martin Klatt, Leiter des Bereichs zu deutsch-däni­schen Minder­hei­ten­fragen am Euro­pean Insti­tute for Mino­rity Issues, beschäf­tigt sich schon jahre­lang mit dem SSW. Ein zentrales Brücken­ar­gu­ment des SSWs als Minder­heiten- und Regio­nal­partei sei, dass viele junge Leute aus der Region wegziehen würden. So verliere auch die Minder­heit ihren Nach­wuchs. Deshalb setze sich der SSW auch für ganz Schleswig-Holstein ein und fordere oft mehr Geld für die Region im Norden.

Die Arbeit im Bundestag sei nicht immer einfach, dennoch arbeite der SSW gut mit allen demo­kra­ti­schen Parteien zusammen, so Seidler. Bei nordi­schen“ Themen, wie dem Küsten­schutz, werde Seidler von den anderen Parteien mitt­ler­weile als Experte wahr­ge­nommen. Jedoch betont Seidler auch, dass er auf die Bereit­schaft der Koope­ra­tion der anderen Parteien ange­wiesen ist. Good­will ist die Währung, die ich habe“, so Seidler. Kleine Anfragen brauchte er in der letzten Legis­la­tur­pe­riode über die Gruppe der Linken ein. Poli­ti­sche Macht hat Seidler kaum. Er darf als frak­ti­ons­loser Abge­ord­neter selbst keine Kleinen Anfragen stellen, sitzt im Innen­aus­schuss ledig­lich als bera­tendes Mitglied und hat begrenztes Rede­recht im Plenum. Seidler betont jedoch immer wieder, wäre der SSW nicht da gewesen, wäre der Norden wie so oft vergessen worden, zum Beispiel bei der Gene­ral­sa­nie­rung der Deut­schen Bahn, bei der auf Nach­druck Seid­lers die Strecke Hamburg-Flens­burg nun eben­falls erneuert wird.

Auch Martin Klatt zieht ein posi­tives Resümee aus den letzten drei­ein­halb Jahren für den SSW, aber auch für die däni­sche Minder­heit. Durch den SSW wurde in Deutsch­land nicht alles besser“, so Klatt. Jedoch habe man die Netz­werke und Möglich­keiten in Berlin genutzt und sich mit anderen natio­nalen Minder­heiten in Deutsch­land, sowie den nordi­schen Botschaften gut vernetzt. Minder­heiten, die durch Parteien vertreten werden, gäbe es in anderen euro­päi­schen Ländern auch. Als Beispiel nennt Klatt Kata­lo­nien. Jedoch stoßen Minder­hei­ten­par­teien oft auf ein Dilemma. Minder­heiten sind keine homo­gene Gruppe und inner­halb der Minder­heit werden verschie­dene Inter­essen verfolgt. So gibt es für größere Minder­heiten auch häufig mehrere Minder­hei­ten­par­teien. Eine andere Möglich­keit für natio­nale Minder­heiten, in der Politik Gehör zu finden, ist über Abge­ord­nete, die in anderen Frak­tionen im Bundestag sitzen. Auf diese Weise lässt sich auch die sorbi­sche Minder­heit in Deutsch­land vertreten. Ein promi­nentes Beispiel der däni­schen Minder­heit ist hier Robert Habeck. Stefan Seidler findet jedoch, die Erfah­rung in der Vergan­gen­heit habe gezeigt, dass der Norden und die natio­nalen Minder­heiten so oft in Verges­sen­heit geraten. 60 Jahre lang habe man versucht über die schleswig-holstei­ni­schen Abge­ord­neten, Anliegen der Minder­heit in den Bundestag einzu­bringen. Seidler meint jedoch: Das war immer eine Bitt­stel­ler­funk­tion. Wenn die mal eine Sprech­zeit hatten, dann konnte man mal vorsichtig anklopfen.“ Mit dem SSW im Bundestag könne man die Minder­heiten deut­lich besser vertreten. Stolz erzählt Seidler vom Parla­ments­kreis Minder­heiten, den er mitin­iti­iert hat und in dem alle demo­kra­ti­schen Parteien im Bundestag vertreten sind. Hier werden die Belange der natio­nalen Minder­heiten thema­ti­siert und die Mitglieder des Kreises tragen diese in ihre jewei­ligen Frak­tionen.

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Bild: Wahl­kampf­ver­an­stal­tung des SSW
© Jette Chiara Ihl / Jugend­presse Deutsch­land e.V.

In Zeiten von emotio­nalen Debatten suchen die Menschen eine sach­ori­en­tierte Partei, ist beim Wahl­kampf­end­spurt in Flens­burg immer wieder zu hören. Mit ihrem nordi­schen Prag­ma­tismus“ möchte sich das SSW weiterhin in Berlin für Schleswig-Holstein einsetzen. Das scheint bei den Leuten gut anzu­kommen. Abseits von den größeren Städten, sei der SSW-Wahl­stand oftmals stärker besucht als der Super­markt dahinter, sagt Seidler mit einem Augen­zwin­kern. Martin Klatt kann sich gut vorstellen, dass der SSW einige Protest­stimmen einsam­meln kann, von Menschen, die mit den anderen Parteien im Moment unzu­frieden sind. Bei den letzten Kommunal- und Land­tags­wahlen sei zu sehen gewesen, dass in Wahl­kreisen in denen der SSW einen Direkt­kan­di­daten aufge­stellt hat, die AfD schwä­cher war. Der aktu­elle Rechts­ruck und die Migra­ti­ons­de­batte bewegt auch den SSW. Bei den Abstim­mungen im Bundestag zum Zustrom­be­gren­zungs­ge­setz hat Seidler sich klar dagegen posi­tio­niert. Wenn eine Demo­kratie funk­tio­nieren solle, dann müsse man alle mitnehmen. Das gilt, laut Seidler, nicht nur für natio­nale, aber auch poli­ti­sche Minder­heiten. Wenn die Demo­kratie unter Druck gerät, dann geraten auch die Minder­heiten unter Druck, so Seidler. Auch Martin Klatt meint: Staaten, die keine gute Minder­hei­ten­po­litik machen, haben ein demo­kra­ti­sches Defizit.“

Martin Klatt glaubt jedoch nicht, dass es für ein zweites SSW-Mandat im Bundestag reichen wird, dafür sei die Hürde von 110.000 Zweit­stimmen zu hoch. Dennoch gibt man sich beim SSW opti­mis­tisch. Die Kandi­datin auf dem zweiten Listen­platz, Maylis Roßberg, soll auch jüngere Menschen der Partei über­zeugen. Schon durch die Nomi­nie­rung der 24-Jährigen für den Bundestag zeige der SSW glaub­würdig, dass er sich für junge Menschen einsetzt, so Roßberg.


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