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Datum
03. April 2017
Autor*in
Dominik Glandorf
Redaktion
politikorange
Thema
#djht17
Schulbank mit Apfel

Schulbank mit Apfel

Kemal will lernen. Wie jedes Kind. Doch er hat denkbar schlechte Voraus­set­zungen. Dominik Glan­dorf porträ­tiert den Worst Case.

Schulfreunde

Kinder sind neugierig und haben viel Energie. Nicht immer können sie diese in der Schule ausschöpfen. Foto: Aman Shrivastava

Kemal ist zehn Jahre alt. Er kam vor drei Jahren mit seinen Eltern nach Deutsch­land. Sie können nur wenige Bruch­stücke Deutsch. Deshalb können sie ihm auch nicht bei den Haus­auf­gaben helfen. Auch sie hatten früher Probleme in der Schule und haben keinen Schul­ab­schluss. Von dem wenigen Sozi­al­geld, das die Familie erhält, bleibt nichts für Nach­hil­fe­un­ter­richt übrig. Kemal hält das aber auch nicht für notwendig, seine Freunde haben schließ­lich auch keinen. Dass die beiden Mädchen am Neben­tisch bessere Noten schreiben als er und sein bester Freund, wundert die beiden – ein erfolg­rei­cher Menschen ist in ihren Köpfen schließ­lich männ­lich. Dass die beiden nach der Schule Bücher lesen, weiß er nicht. Bei ihm stehen nicht mal Bücher im Regal. Da steht nur die Spie­le­kon­sole. Lesen ist für Kemal sowieso kein Vergnügen. Bald kommt Kemal in die fünfte Klasse. Für das Gymna­sium hat es nicht gereicht. Das haben die Lehr­kräfte seinen Eltern von Anfang an gesagt. Sein Noten­schnitt ist zu schlecht. Auch seine Deutsch­kennt­nisse sollten schon besser sein. Kemal hat gehört, dass man auf das Gymna­sium wech­seln kann, wenn man gute Noten schreibt. Dass Kemal in seiner Heimat in der ersten Klasse von seinen Lehrern und Lehre­rinnen gelobt wurde, weiß hier niemand. Auch seine Eltern haben es inzwi­schen vergessen und hoffen, dass ihr Sohn über­haupt einen Abschluss macht.

Der klas­si­sche Verlierer

Kemal gibt es nicht. Gäbe es Kemal wirk­lich, wäre er der klas­si­sche Verlierer unseres Bildungs­sys­tems. Der fiktive Charakter vereint viele Eigen­schaften, die jungen Menschen in Deutsch­land ihre Chancen auf höhere Bildungs­ab­schlüsse verrin­gern. Alle Menschen haben ein Recht auf Bildung. Das haben die Vereinten Nationen 1948 in der Allge­meinen Erklä­rung der Menschen­rechte fest­ge­halten. Auf dem 16. Deut­schen Kinder- und Jugend­hil­fetag beschäf­tigen sich viele Experten und Exper­tinnen mit der Verbes­se­rung der Situa­tion. Und so darf Kemal davon träumen, dass seine Kinder unab­hängig von sozialem Stand und anderen Faktoren die glei­chen Bildungs­chancen wie alle haben.

Stück für Stück entsteht Kemal

Im Arbeits­pa­pier Soziale Ungleich­heiten in schu­li­scher und außer­schu­li­scher Bildung“ der Hans-Böckler-Stif­tung von den Sozi­al­for­sche­rinnen Heike Solga und Rosine Dombrowski geben die Autorinnen den Stand der Forschung zum Thema Bildungs­un­gleich­heit wieder. Kemals Lebens­ge­schichte setzt sich aus den Forschungs­er­geb­nissen des Papiers zusammen:

  • Schicht­zu­ge­hö­rig­keit: Die soziale Schicht­zu­ge­hö­rig­keit, der Bildungs­ab­schluss der Eltern und die Anzahl der im Haus­halt verfüg­baren Bücher haben unter anderem einen Einfluss auf die Lese­kom­pe­tenzen. Ein geringer sozio­öko­no­mi­scher Hinter­grund verrin­gert die Chancen, dass Schüler und Schü­le­rinnen auf ein Gymna­sium gehen. Eltern aus höheren Schichten inves­tieren zum Beispiel mehr Geld in den Nach­hil­fe­un­ter­richt. Bildungs­armut setzt sich über Gene­ra­tionen fort. Über die Hälfte aller Jugend­li­chen erreicht keinen höheren Bildungs­ab­schluss als ihre Eltern“, heißt es in der Broschüre zum 15. Deut­schen Kinder- und Jugend­be­richt. Zudem sorgt die Auftei­lung der Kinder in diffe­ren­zierte Schul­formen für unter­schied­lich ausge­prägte Moti­va­tion und Erwar­tungen.

  • Migra­ti­ons­hin­ter­grund: Im deut­schen Bildungs­system wird laut Papier der Migra­ti­ons­hin­ter­grund im Bildungs­pro­zess rele­vant.“ 31,8% der 15-Jährigen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund besu­chen die Haupt­schule, während es nur 16,6% der 15-Jährigen ohne Migra­ti­ons­hin­ter­grund sind. Zu einem Teil kann dies darauf zurück geführt werden, dass Fami­lien mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund häufiger zu nied­ri­geren sozialen Schichten gehören und die Eltern seltener höhere Bildungs­ab­schlüsse vorweisen. Dies vari­iert jedoch stark je nach Herkunfts­land. Aber auch die Beherr­schung der deut­schen Sprache ist ein Faktor. Deren Auswir­kung ist in Deutsch­land im Vergleich zu anderen Ländern beson­ders groß.

  • Geschlecht: Über 60% der Schul­ab­gänger und ‑abgän­ge­rinnen ohne Haupt­schul­ab­schluss sind Jungen. Es gibt nur vage Theo­rien über die Ursa­chen. Dazu gehört die Domi­nanz weib­li­cher Lehr­kräfte im Schul­system, lang­sa­mere Entwick­lungs­ge­schwin­dig­keiten von Jungen und geschlechts­spe­zi­fi­sche Sozia­li­sa­tion. Mädchen lesen allge­mein mehr und spielen häufiger ein Instru­ment als Jungen. Diese spielen mehr Compu­ter­spiele und schauen mehr Filme.

  • Bildungs­mo­bi­lität: Die Entschei­dung für den Schultyp der weiter­füh­renden Schule kann zwar korri­giert werden, aber in den meisten Fällen findet eine Korrektur in eine nied­ri­gere Schul­form statt. Das Bildungs­system weist eine geringe Durch­läs­sig­keit auf.

Die Ausnahme bestä­tigt die Regel

Die darge­stellten Aspekte sind nicht alle Faktoren, die zu Benach­tei­li­gung im deut­schen Bildungs­system führen. Zum Beispiel wirken sich auch körper­liche und geis­tige Beein­träch­ti­gungen und der Wohnort auf die Chancen aus. Dennoch gilt: Es gibt viele Menschen, die denkbar schlechte Voraus­set­zungen mitbringen und trotzdem hervor­ra­gende Bildung erfahren. Ebenso sind die besten Voraus­set­zungen keine Garantie für einen Erfolg.

Es gibt bereits viele Hilfs­an­ge­bote, viele Lehrende regen aus persön­li­cher Moti­va­tion indi­vi­du­elle Förde­rungen an und welt­weit enga­gieren sich Menschen für gleiche Chancen in der Bildung. Und so werden Leser und Lese­rinnen dieses Arti­kels hoffent­lich schon in naher Zukunft das Gefühl haben, dass Kemal aus einer anderen Zeit stammen muss.


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