Die verges­senen Kinder – Opfer inner­fa­mi­liärer Tötungs­de­likte

Datum
29. März 2017
Autor*in
Ema Jerkovic
Redaktion
politikorange
Thema
#djht17
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Wenn ein Eltern­teil den anderen Eltern­teil tötet, sind Kinder beson­ders schutz­be­dürftig. Doch in der Kinder- und Jugend­hilfe werden diese Fälle oft über­sehen. Ema Jerkovic hat heraus­ge­funden, was das Jugendamt Stutt­gart dagegen tun möchte.

Interfamiliäre Tötungsdelikte Bild Veranstaltung

Susanne Heyen und Frauke Zahradnik stellen die Studie des Jugendamts Stuttgart vor. Foto: Anna Rakhmanko.

Vor fast genau einem Jahr, am 4. April 2016, ersticht ein 37-jähriger Fami­li­en­vater seine Ex-Freundin in der Dorf­metz­gerei des kleinen schwä­bi­schen Ortes Donz­dorf in der Region Stutt­gart. Die drei gemein­samen Kinder – zum Tatzeit­punkt drei, fünf und sechs Jahre alt – müssen die schreck­liche Tat mit ansehen. Der Täter wird gefasst und verur­teilt. Doch was passiert mit den trau­ma­ti­sierten Kindern?

Der Schutz und die Versor­gung der Kinder ist in solchen Fällen beson­ders entschei­dend. Das Jugendamt der Stadt Stutt­gart in Koope­ra­tion mit dem Erzbi­schöf­li­chen Ordi­na­riat Frei­burg hat genau diese Schutz­be­dürf­tig­keit in einem quali­ta­tiven Forschungs­pro­jekt unter­sucht. Die Ergeb­nisse der Studie wurden während des 16. Deut­schen Kinder – und Jugend­hil­fetags in Düssel­dorf von den Projekt­lei­te­rinnen Dr.phil. Susanne Heyen und Frauke Zahr­adnik vorge­stellt.

Fragen an die Betrof­fenen

Zentrale Frage­stel­lung der Studie ist, wieso Kinder solcher inner­fa­mi­liären Tötungs­de­likte kaum in der Jugend­hilfe wahr­ge­nommen werden. Vier­zehn Betrof­fene wurden über zwei Jahre befragt. Da die Gefahr der erneuten Trau­ma­ti­sie­rung bestand, wurde ein langer Prozess der Vertrau­ens­bil­dung voran­ge­stellt. 93 % der Befragten waren älter als 20 Jahre, nur 7 % darunter.

Somit fokus­siert sich die Studie auf Personen, bei der die Tat schon länger her ist. Die Verant­wort­li­chen der Studie haben bewusst Voll­jäh­rige befragt. Ziel war die Analyse der lang­fris­tigen Rolle des Jugend­amtes nach der Tat im Leben der betrof­fenen Kinder. Wie es Kindern zurzeit in solchen Situa­tionen geht, ist dadurch jedoch schwer nach­voll­ziehbar.

Das Leben vor der Tat

Genau die Hälfte der Befragten hat in ihrer Familie schon vor der Tat Gewalt des Täters oder der Täterin erlebt. Teil­weise wurde die Tat ange­kün­digt und dann von dem Opfer oder dem Umfeld an die Polizei gemeldet. Ein Befragter erin­nert sich: Die Polizei meinte dann, der kann viel sagen, aber solange er nichts macht, können wir nichts tun.“ In dem Fall der drei Brüder aus Donz­dorf war auch der Täter – ihr Vater – poli­zei­lich sowie juris­tisch bekannt. Sieben Jahre lang schlug er seine Frau und die Kinder. 2015 folgte die Tren­nung. Der Vater schrieb daraufhin täglich Nach­richten, rief an, stellte der Frau nach. Es folgte ein gericht­li­ches Annä­he­rungs­verbot.

Die andere Hälfte der Studi­en­teil­neh­menden hat jedoch keine Gewalt im Fami­li­en­alltag erlebt, sondern einen ganz starken Gegen­satz zur späteren Tat“, wie Projekt­lei­terin Frauke Zahr­adnik fest­hält. Der spätere Täter oder die spätere Täterin war in diesen Fällen im Fami­li­en­ge­füge eher der ausglei­chende, beson­nene Teil.

Der am stärksten vertre­tende auslö­sende Moment ist der Zusam­menzug mit einem neuen Partner oder einer neuen Part­nerin. Im Fall der Familie aus der Region Stutt­gart hatte die Mutter zum Tatzeit­punkt einen neuen Partner, war schwanger und plante einen anderen Mann zu heiraten.

Das Leben nach der Tat

Das Jugendamt war in den meisten Fällen nach der Tat kaum bis gar nicht inte­griert. So wurden viele der Betrof­fenen direkt nach der Tat bei Verwandten unter­ge­bracht. Diese wurden dann lang­fristig zur Pfle­ge­fa­milie. In fast allen Pfle­ge­fa­mi­lien wurde die Trauer tabui­siert, was das seeli­sche Trauma der Kinder verstärkte.

Die Kinder schil­dern Gefühle von Uner­wünscht­heit und Benach­tei­li­gung, auch wenn die Fami­lien erstmal helfen wollten“ erklärt die Projekt­lei­terin, während der Vorstel­lung der Studie auf dem 16. Kinder – und Jugend­hil­fetag. Der Abbruch von vorher regel­mä­ßigen Frei­zeit­be­schäf­ti­gungen oder der Ausschluss von gemein­samen Unter­neh­mungen sind konkrete Beispiel dafür. Acht der vier­zehn Befragten erlebten in der neuen Familie Gewalt oder Vernach­läs­si­gungen. Diese stellt die Studie als Einzel­fälle dar. Doch bei einer Prozent­zahl von über 50% wirft sich die Frage auf, ob dies nicht eher die Regel als die Ausnahme bildet.

Ich bin nicht nur Tochter des Opfers, sondern auch des Täters. Ich vermisse auch meinen Vater.“ Dies ist eine der zwei­spal­tigen Stim­mungen, in denen sich die Befragten nach der Tat oft wieder­fanden. Zusätz­lich wurden den Kindern immer wieder nega­tive Eigen­schaften des Täters zuge­schrieben.

Beson­ders über­rascht hat die beiden Projekt­lei­te­rinnen die große Rolle, die Geschwister bei den Befragten spielten. Oft sahen diese die Geschwister als einzige Familie an. Trotzdem empfanden alle Befragten das Gefühl am Schlimmsten, dass sie alleine gelassen wurden.

Opfern eine Stimme geben

Doch welche Bilanz zieht die Studie? Laut den Projekt­lei­te­rinnen liegt die Arbeit des Jugend­amtes in solchen spezi­ellen Fällen bei der Krisen­in­ter­ven­tion, Obhut sowie Amts­vor­mund­schaft und stär­keren Kontrollen der Pfle­ge­fa­mi­lien. Diese Kontrollen fielen bei den Befragten sehr schwach aus, da es sich meist um enge Verwandte handelten.

Weiterhin betonen die beiden, dass die Studie vor allem das Thema in der Jugend­hilfe präsent machen soll. Dafür appel­lieren die beiden Projekt­lei­te­rinnen während ihrer Vorstel­lung der Studie bei dem Kinder- und Jugend­hil­fetag 2017 beson­ders an die anwe­senden Fach­kräfte. Von den Zuhö­renden sind viele sicht­lich angetan und die Forde­rungen der Projekt­lei­te­rinnen werden sehr positiv aufge­nommen. Nach der Präsen­ta­tion versam­meln sich viele Fach­kräfte sowie junge Menschen um die Verant­wort­li­chen, um mehr Infor­ma­tionen zu erhalten. Auch Projekt­lei­terin Susanne Heyen ist angetan und stellt fest: Damit werden wir sicher­lich nicht aufhören!“. Zahl­reiche Gesprächs­partner schreiben sich die Tele­fon­nummer und E‑Mail-Adresse der Diplom-Psycho­login auf, man möchte in Kontakt bleiben.


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