Make Digital Demo­cracy Great (Again): Demo­kratie und Trans­pa­renz im digi­talen Wahl­kampf

Datum
17. September 2021
Autor*in
Santino Anderer
Redaktion
politikorange
Themen
#BTW21 #Medien
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Wahl­kampf findet längst auch online statt. Doch in Deutsch­land ist dieses zuneh­mend wich­tige Feld der Wahl­wer­bung noch immer erstaun­lich unre­gu­liert. FakeNews sind nur eine uner­freu­liche Folge dieses Mangels. Santino Anderer beleuchtet die Thematik.

Wahl­kampf via Insta­gram, YouTube und Co: Social Media-Kanäle, Such­ma­schinen, Video­por­tale und Messenger-Gruppen gene­rieren eine Reich­weite von Millionen poten­zi­eller Wähler*innen. Im digi­talen Wahl­kampf nutzen Parteien und poli­tisch Werbende die Platt­formen, um Posi­tionen zu präsen­tieren, Wahl­be­rech­tigte zu mobi­li­sieren, Gegner*innen zu kriti­sieren oder Spenden einzu­werben. Aller­dings kann der Einsatz von digi­taler poli­ti­scher Kommu­ni­ka­tion auch intrans­pa­rent und anti­de­mo­kra­tisch sein, kriti­siert die Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion Goliath Watch. Wir laufen Gefahr, dass sich Trump-Methoden wie im Brexit oder bei Bolso­naro im aktu­ellen Bundes­tags­wahl­kampf wieder­holen“, warnt Geschäfts­führer Dr. Thomas Dürmeier.

How to get votes online (fast)

Die Notwen­dig­keit von digi­taler Wahl­wer­bung ist offen­sicht­lich. Der Vorteil: Neben der großen Reich­weite können Platt­formen wie Face­book, Insta­gram oder YouTube (Wahl-)Werbung kosten­günstig und gezielt ausspielen. Die Pandemie hat den Ausbau und die Nutzung des Inter­nets weiter geför­dert, sodass auch poli­ti­sche Meinungs­bil­dung vermehrt online statt­findet. Laut Schät­zungen der Stif­tung Neue Verant­wor­tung haben allein deut­sche Parteien im Wahl­kampf für das Euro­päi­sche Parla­ment 2019 rund 1,5 Millionen Euro für Online-Werbung ausge­geben.

Anders als im tradi­tio­nellen Straßen- und Fern­seh­wahl­kampf bestehen in digi­talen Räumen aller­dings nur schwache Regu­la­rien, die einen fairen und mani­pu­la­ti­ons­freien Wahl­kampf garan­tieren. Perso­na­li­sierte Werbung durch Micro­tar­ge­ting und der Einsatz soge­nannter Social Bots und Trolle ermög­li­chen Parteien und bezahlten Influencer*innen Menschen online nach sozio­de­mo­gra­phi­schen Kate­go­rien gezielt anzu­spre­chen, einseitig zu infor­mieren und psycho­lo­gisch zu mani­pu­lieren. So wurden Social-Media-Kanäle in den Tagen vor dem Brexit-Refe­rendum dermaßen von Pro-Kampa­gnen über­flutet, dass oppo­si­tio­nelle Stimmen in der Infor­ma­ti­ons­flut regel­recht ertränkt wurden.

Der*die gläserne Wähler*in

Spätes­tens seit dem Skandal um Cambridge Analy­tica ist bekannt, dass soziale Medien wie Face­book die Infor­ma­tionen ihrer User*innen spei­chern, um detail­reiche perso­na­li­sierte Daten­pro­file anzu­legen. Durch die Anpas­sung von Infor­ma­tionen an das indi­vi­du­elle Alter, Geschlecht, die Region oder Inter­essen von User*innen entstehen soge­nannte Filter­blasen. Der Algo­rithmus schlägt nun Beiträge vor, die den abge­lei­teten Vorlieben und Abnei­gungen (Likes und Such­ver­halten) des Indi­vi­duums entspre­chen. Durch Micro­tar­ge­ting, also die ziel­gruppen-spezi­fi­sche Ausspie­lung von Werbung, können poli­ti­sche Parteien im digi­talen Wahl­kampf gezielt in diese Filter­blasen eindringen. Das erlaubt ihnen beispiels­weise (nur) einzelne Inhalte des Wahl­pro­gramms bereit­zu­stellen oder sogar wider­sprüch­liche Wahl­ver­spre­chen abzu­geben.

Wild­west-Situa­tion in den Sozialen Medien

Die daten­ge­stützten Verhal­tens­pro­file, von denen die poli­tisch Werbe­trei­benden profi­tieren, basieren auf einer Fülle an Infor­ma­tionen, die offline nicht verfügbar sind. Poli­tisch Werbende können Kampa­gnen nicht nur ziel­grup­pen­spe­zi­fisch ausspielen, sondern auch über­prüfen, auf welche Inhalte beson­ders stark oder wenig reagiert wird und gege­be­nen­falls Anpas­sungen vornehmen. Digi­tale Wahl­wer­bung ist demnach nicht nur situativ anpas­sungs­fähig, sondern auch vergleichs­weise ressour­cen­günstig. Die große Reich­weite digi­taler Netz­werke erlaubt es außerdem, dass noch lange, nachdem eine Kampagne ausge­spielt wurde, Inhalte durch User*innen auf Profilen und in Chat­räumen verbreitet werden. Weil sich geschlos­sene Messenger-Gruppen einer recht­li­chen oder insti­tu­tio­nellen Kontrolle entziehen, öffnen digi­tale Räume aller­dings auch vermehrt Türen für Hate Speech und Desin­for­ma­tions-Kampa­gnen. Die Schie­ßerei infolge der Pizzagate-Verschwö­rungs­theorie um Hillary Clinton von 2016 oder die Stür­mung des Kapi­tols am 06. Januar in Washington veran­schau­li­chen, wie Filter­blasen und Fake News Polemik und Diskri­mi­nie­rung in den analogen Alltag kopieren können.

Eine Anfang September veröf­fent­lichte Studie der Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion Avaaz zeigt, dass im aktu­ellen Wahl­kampf insbe­son­dere Anna­lena Baer­bock, Spit­zen­kan­di­datin von Bündnis 90/​Die Grünen, Ziel von falschen oder irre­füh­renden Infor­ma­ti­ons­kam­pa­gnen ist. Demnach entfielen unter den drei Kanzlerkandidat*innen 71% der 800 unter­suchten Desin­for­ma­tions-Atta­cken auf sie.

Fairer Online-Wahl­kampf ohne Union

Poli­ti­sche Werbung in Deutsch­land unter­liegt Regeln, die primär für den tradi­tio­nellen Straßen- und Fern­seh­wahl­kampf erschaffen worden sind. Etwa bestehen in TV und Rund­funk Ober- und Unter­grenzen für Werbe­spots, die verhin­dern, dass eine poli­ti­sche Inter­es­sens­gruppe über­pro­por­tional reprä­sen­tiert wird. Dass Regeln für Online-Werbung hingegen der Selbst­ver­pflich­tung poli­tisch Werbender und den global agie­renden High Tech-Unter­nehmen hinter den Sozialen Netz­werken über­lassen werden, ist laut Dr. Thomas Dürmeier von Goliath Watch unzu­rei­chend. Die Hamburger NGO hat anhand von Wahl­prüf­steinen den Umgang der etablierten Parteien mit digi­taler Wahl­wer­bung unter­sucht:

Während Bündnis 90/​Die Grünen und die SPD sich klarer Selbst­ver­pflich­tungen für einen fairen digi­talen Wahl­kampf aufer­legt haben, verwei­gert die Union bis heute Auskunft über ihren Umgang mit digi­talen perso­na­li­sierten Werbe­me­thoden, trotz Protest von Goliath Watch. Dürmeier bedauert: Das ist der nächste Skandal der Intrans­pa­renz. Will die CDU ähnlich wie Donald Trump oder wie im Brexit Methoden der digi­talen Verhal­tens­ma­ni­pu­la­tion einsetzen?“

Die Auswer­tung der Antworten von SPD, Grünen, FDP und der Linken verdeut­licht, dass alle Parteien im digi­talen Wahl­kampf Micro­tar­ge­ting nutzen, um gezielt Wahl­be­rech­tigte anzu­spre­chen. Stan­dards, Grenzen und Regu­lie­rungs­vor­schläge für poli­ti­sche Online-Werbung unter­scheiden sich aller­dings. SPD, Bündnis 90/​Die Grünen und die Linke sehen Fake News, Hate Speech, Social Bots und Diskri­mi­nie­rung als konkrete Bedro­hung für die Demo­kratie im digi­talen Wahl­kampf an. Während die FDP die Euro­päi­sche Daten­schutz­grund­ver­ord­nung (DSGVO) für ausrei­chend hält, um Nutzer*innen zu schützen, will die Linke proaktiv gegen Desin­for­ma­tion vorgehen und die Markt­macht­stel­lung der großen Digi­tal­kon­zerne entflechten. Aufgrund des Partei­spen­den­skan­dals und Falsch­mel­dungen, die die Partei in der Vergan­gen­heit produ­ziert und verbreitet hat, wurde die AfD von Goliath Watch nicht befragt.

Campaign Watch fordert Regu­la­rien

Gemeinsam mit dem breiten zivil­ge­sell­schaft­li­chen Bündnis Campaign Watch hat Goliath Watch eine Peti­tion gestartet, die die zukünf­tige Bundes­re­gie­rung aufruft, poli­ti­sche Online-Werbung gesetz­lich zu regu­lieren. Wir erwarten von der nächsten Bundes­re­gie­rung vergleich­bare Regeln wie im tradi­tio­nellen Straßen- und Fern­seh­wahl­kampf“, fordert Dürmeier.

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Die Hamburger NGO Goliath Watch demonstriert vor dem Konrad-Adenauer-Haus. Trotz Protests verweigern die Unionsparteien CDU/CSU Auskunft über ihren Umgang mit digitaler Wahlwerbung. Foto: Goliath Watch

Das Bündnis, zu dem auch der Deut­sche Gewerk­schafts­bund und Reporter ohne Grenzen zählen, fordert die konse­quente Durch­set­zung von Sorg­falts- und Rechen­schafts­pflichten für die Netz­werke, Werbe­firmen und poli­ti­sche Kund­schaft. Dafür benö­tige es platt­for­men­über­grei­fende Begren­zungen für Micro­tar­ge­ting, Mindest­größen für Werbe­ziel­gruppen und Grenzen für Online-Werbe­aus­gaben. Im Inter­esse der Öffent­lich­keit sollen Netz­werke und Daten­ar­chive für Zivil­be­völ­ke­rung, Forschende und Journalist*innen einsehbar gemacht werden, um die Funk­ti­ons­weisen und algo­rith­mi­schen Ausspie­lungen von Platt­formen zu über­prüfen. Auch das 2020 einge­rich­tete Euro­päi­sche Gremium für Digi­tale Dienste arbeitet aktuell an einer Verschär­fung der Regu­la­rien für digi­tale poli­ti­sche Werbung. Die parla­men­ta­risch legi­ti­mierte und unab­hän­gige Stelle soll die Trans­pa­renz­pflichten und Kampa­gnen­fi­nan­zie­rung nicht nur von Parteien, sondern von allen poli­tisch Werbe­trei­benden und das Risi­ko­ma­nage­ment der Platt­formen beauf­sich­tigen.

Doch noch greifen die gefor­derten bzw. von den Parteien ange­kün­digten Regu­la­rien nicht, sodass mani­pu­la­tive und perso­na­li­sierte Werbe­me­thoden in vielen digi­talen Räumen Vorfahrt vor einem trans­pa­renten und fairen Wahl­kampf haben. Dass Politiker*innen der AfD in Trump-Manier nun verstärkt die Inte­grität der Brief­wahl in Frage stellen, lässt erwarten, dass mit weiteren Fake News und Desin­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen vor der Bundes­tags­wahl zu rechnen ist.


Kommentar: My CSU Bros have never heard about Digital Demo­cracy

von Santino Anderer

Um gleiche Chancen im digi­talen Wahl­kampf und einen plura­lis­ti­schen Meinungs­aus­tausch zu garan­tieren, benö­tigt es umfang­reiche recht­liche Grund­lagen und Kontroll­gre­mien. Dass hier­zu­lande Wahl‑, Medien- und Partei­en­land­schaft noch immer als immun gegen­über perso­na­li­sierter und mani­pu­la­tiver Online-Werbung wahr­ge­nommen werden, ist illu­so­risch. Die digi­talen Filter­blasen teilen die poli­ti­sche Öffent­lich­keit dabei in Werbe­gruppen und das demo­kra­ti­sche Prinzip, allen Wahl­be­rech­tigten die glei­chen Wahl­ver­spre­chen vorzu­tragen, wie eine Axt auf dem Hauklotz. Homo­gene Gruppen, die von einem einsei­tigen Infor­ma­ti­ons­fluss gespeist werden, sind selten immun gegen poli­ti­sche Pola­ri­sie­rung. Die Verhär­tung sozialer Grenzen und Grup­pie­rungen kann sogar demo­kra­tie­feind­lich sein, wie #QAnon oder die #Quer­denken-Bewe­gung demons­trieren.

Dass insbe­son­dere die Stief­schwes­tern CDU/CSU diese Proble­matik verkennen, zeigt die Auskunfts­ver­wei­ge­rung über ihren Umgang mit digi­taler Wahl­wer­bung. Aller­dings gehen die Konser­va­tiven mit ihrer Trans­pa­renz auch zuweilen schlud­riger um als Armin Laschet bei der Noten­ver­gabe seiner Hoch­schule, wie zuletzt die neuen Zerstö­rungs­vi­deos“ des YouTubers Rezo kriti­sierten.

Das Grund­ge­setz Art. 21 Abs. 1 verpflichtet alle Parteien sich für einen demo­kra­ti­schen poli­ti­schen Willens­bil­dungs­pro­zess der Bürger*innen einzu­setzen. Im Wahl­kampf stehen die Parteien vor der großen Heraus­for­de­rung diese gesetz­lich veran­kerte Aufgabe auch tatsäch­lich umzu­setzen und digital faire Wahl­kampf­be­din­gungen zu garan­tieren und Wahl­ma­ni­pu­la­tion zu verhin­dern.


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