Hoffen und träumen

Datum
09. Dezember 2020
Autor*in
Dijana K.
Redaktion
politikorange
Themen
#NewsroomEurope 2020 #Politik
Eine EU-Flagge im Regierungsviertel in Berlin

Eine EU-Flagge im Regierungsviertel in Berlin

Stärker, gerechter, sozialer“ – die Bundes­re­gie­rung verspricht mit der Trio-Rats­prä­si­dent­schaft Großes. Was das für die Menschen in Europa bedeutet? poli­ti­ko­range-Redak­teurin Dijana hat sich damit ausein­an­der­ge­setzt.

Von Juli bis zum Ende des Jahres wird Deutsch­land für ein halbes Jahr die EU-Rats­prä­si­dent­schaft inne­haben. Auf die Bundes­re­pu­blik folgen Portugal und Slowe­nien. Kanz­lerin Angela Merkel sieht sich jetzt mit hohen Erwar­tungen konfron­tiert. Denn durch die Rats­prä­si­dent­schaft Deutsch­lands erhoffen sich deut­sche und euro­päi­sche Politiker*innen einen neuen Kurs für die Euro­pa­po­litik. Aber was kann der Rat über­haupt bewirken? Und was steht in dem 28-seitigen Stra­te­gie­pa­pier, das die Bundes­re­gie­rung im Zuge der Trio-Rats­prä­si­dent­schaft verab­schiedet hat?

Die Macht des Euro­päi­schen Rates

Der Rat der Euro­päi­schen Union wird auch Minis­terrat“ genannt. Dieser Name hat einen Grund: Der Rat ist eine EU-Insti­tu­tion, in der natio­nale Minister*innen der Mitglieds­staaten tagen. Per Defi­ni­tion wäre es ihm möglich, inter­na­tio­nale Verträge für die Union zu schließen. 27 Minister*innen aus den 27 verschie­denen EU-Staaten mit zum Teil sehr unter­schied­li­chen Zielen, machen den Entschei­dungs­pro­zess oft sehr kompli­ziert.

Durch die Rats­prä­si­dent­schaft kann ein Land die Tages­ord­nung der Minister*innentreffen vorschlagen und somit wich­tigen Themen Raum geben. Über Geset­zes­ent­würfe kann der Rat der EU nur abstimmen. Vorschlagen darf er sie nicht. Diese Kompe­tenz heißt Initia­tiv­recht und liegt bei der Euro­päi­schen Kommis­sion. Der Rat ist außerdem für die Gestal­tung der Außen- und Sicher­heits­po­litik zuständig.

© SWP

Das ist Minna Ålander. Ihr Expert*innengebiet: Die EU. © SWP

Die Planung der deut­schen Rats­prä­si­dent­schaft 2021 hält Minna Ålander, Forschungs­as­sis­tentin der Forschungs­gruppe EU/​Europa der Stif­tung Wissen­schaft und Politik (SWP), für sehr ehrgeizig.“ Das liege aber vor allem an den beson­deren externen Bedin­gungen: Vor dem Ausbruch der Pandemie hatte Deutsch­land sich eher ambi­ti­onslos gezeigt, und als Prio­rität nur einen Gipfel mit China ange­kün­digt. Covid-19 hat die deut­sche Präsi­dent­schaft in ihrer Wich­tig­keit jedoch deut­lich aufge­wertet.“ 

Das Corona-Virus und seine Folgen

Im Mittel­punkt der deut­schen Rats­prä­si­dent­schaft wird also zwangs­läufig der Umgang mit der Covid-19-Pandemie stehen. Ganz klares Ziel ist die länger­fris­tige und effi­zi­ente Eindäm­mung der Pandemie. Auch die wirt­schaft­liche Reha­bi­li­ta­tion der EU scheint das Thema zu sein. Arbeits­plätze sollen erhalten bleiben und die Verän­de­rungen des Marktes durch den Green Deal sollen möglichst sozial erfolgen. Gleich­zeitig strebt die deut­sche Rats­prä­si­dent­schaft die Erhö­hung der euro­päi­schen Wett­be­werbs­fä­hig­keit an – begin­nend bei der indus­tri­ellen Produk­tion.

Aus dem Chaos lernen

Bergner, Susan

Das ist die Wissenschaftlerin Susan Bergner, die sich mit gesundheitspolitischen Themen auskennt. © SWP

Das EU-Krisen­ma­nage­ment ist ausbau­fähig. Das hat spätes­tens die Coro­na­pan­demie gezeigt. In zukünf­tigen Heraus­for­de­rungen soll die EU sich daher mit einem verbes­serten Mecha­nismus vor Kata­stro­phen schützen können.

Die Wissen­schaft­lerin Susan Bergner setzt sich in ihrer Arbeit mit globalen gesund­heits­po­li­ti­schen Fragen ausein­ander. Sie hält es für realis­tisch, dass EU- Mitglieds­staaten und Insti­tu­tionen sich durch die Rats­prä­si­dent­schaft auf verbes­serte Mecha­nismen im Krisen­ma­nage­ment einigen könnten: Mit Blick auf die Erfah­rungen und das Chaos zu Beginn der Pandemie in Europa, haben daran alle Parteien ein Inter­esse. Ich befürchte jedoch, dass diese Maßnahmen nicht weit­rei­chend genug sein werden, um an den Kern des Problems zu dringen, nämlich die Stär­kung von Gesund­heits­sys­temen in Europa.“

Zum Eindämmen der Krise war in der Vergan­gen­heit aber vor allem das Nach­ver­folgen von Infek­ti­ons­ketten wichtig. Deshalb spricht sich die deut­sche EU-Rats­prä­si­dent­schaft für das Nutzen von Ortungs- und Warn-Apps aus, die euro­pa­weit funk­tio­nieren und sich der Daten­schutz-Grund­ver­ord­nung fügen sollen. Das Benutzen solcher Apps soll frei­willig bleiben. Wie genau das aussehen soll? Nicht viel anders als die Corona-Warn App, die wir in Deutsch­land bereits haben – nur auf ganz Europa ausge­breitet. Die Kommis­sion macht bereits Tests für eine solche digi­tale Infra­struktur“, so Susan Bergner.

Gerecht, gerechter, EU?!

EU- und Deutschland-Flagge vorm Bundestag

© Dijana Kolak

Ein gerechtes Europa“ – so heißt in der Stra­tegie der Vorschlag für natio­nale faire Mindest­löhne. Um diese auch auf euro­päi­scher Ebene zu gewähr­leisten, will der Rat den Vorschlag eines fairen“ Mindest­lohns mit der Kommis­sion disku­tieren. Ziel ist es, eine soziale und finan­zi­elle Absi­che­rung auf euro­päi­scher Ebene voran­zu­bringen. Wie hoch dieser Mindest­lohn ausfallen soll, bleibt aller­dings unklar.

Die EU-Expertin Minna Ålander sieht die Durch­set­zung eines euro­pa­weiten Mindest­lohns eher kritisch: Vor allem die nordi­schen EU-Mitglieder Däne­mark, Finn­land und Schweden, aber auch Öster­reich, sind gegen die Initia­tive. In den Ländern exis­tieren bereits umfang­reiche Tarif­ver­hand­lungs­sys­teme, wodurch Einkom­mens­un­ter­schiede möglichst gering gehalten werden. Da zudem die Arbeits­markt­mo­delle in den euro­päi­schen Ländern teil­weise stark vari­ieren, wird es ohnehin schwierig, ein für alle EU-Mitglieder sinn­volles Niveau für einen EU-weiten Mindest­lohn zu finden.“

Dem Thema Schutz und Teil­habe junger Menschen“ sind im Stra­te­gie­pa­pier zwei Absätze gewidmet. Die Rats­prä­si­dent­schaft konzen­triert sich dort auf die Bekämp­fung von Jugend­ar­beits­lo­sig­keit und auf die Erwei­te­rung eines Jugend­ar­beits­an­ge­botes. Auch in der Klima­ge­rech­tig­keit soll es voran­gehen. Der Begriff zeigt den Klima­wandel als poli­ti­sche sowie ethi­sche Heraus­for­de­rung auf. Die Bera­tungen zu einem Entwurf eines euro­pä­isch verbind­li­chen Klima­schutz­ge­setzes möchte der Rat zeitnah abschließen. Derzeit sieht dieser eine Klima­neu­tra­lität bis 2050 vor.

Zeit­geist und Moder­ni­sie­rung treffen auf die EU

Moderne Technik, eine voran­schrei­tende Digi­ta­li­sie­rung und das Ziel, eine gemein­same Daten­in­fra­struktur zu schaffen: Ein weiterer Fokus der deut­schen EU-Rats­prä­si­dent­schaft liegt auf der Digi­tal­po­litik. So wurde Ende September das GAIA-X-Programm gelauncht. Das ist eine euro­päi­sche Cloud, die für Unter­nehmen gedacht ist und erst­malig eine euro­päi­sche Daten­in­fra­struktur schafft.

Auch Hate-Speech und Falsch­mel­dungen im Internet sind Probleme, für die die deut­sche Rats­prä­si­dent­schaft aktiv nach Lösungen sucht. Außerdem will die EU eine Antwort auf zukünf­tige Heraus­for­de­rungen der Digi­ta­li­sie­rung finden und dabei zum Beispiel einen euro­päi­schen Umgang mit künst­li­cher Intel­li­genz entwi­ckeln.

Die Ziele der Rats­prä­si­dent­schaft bezüg­lich Gender­ge­rech­tig­keit werden hingegen nur kurz erör­tert. Hier möchte die Rats­prä­si­dent­schaft gegen geschlech­ter­spe­zi­fi­sche Gewalt vorgehen und den (berei­nigten) Gender-Pay-Gap beheben. Außerdem unter­stützt die Rats­prä­si­dent­schaft die neue Stra­tegie der EU-Kommis­sion für die Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit.

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© Dijana Kolak

Euro­päi­sches Asyl­system? Fehl­an­zeige!

Der Umgang mit Migra­tion erhitzt in der EU schon seit Jahren die Gemüter. Ein euro­pa­weites Asyl­system, das flüch­tenden Menschen Schutz bietet, die Grund­rechte wahrt und die Geflüch­teten unter allen EU-Mitglieds­staaten gerecht aufteilt, ist derzeit nicht in Planung. Im Zuge der Rats­prä­si­dent­schaft möchte Deutsch­land sich statt­dessen für die Bekämp­fung der Flucht­ur­sa­chen einsetzen und das System der Rück­füh­rung effi­zi­enter gestalten. Es unter­stützt den Ausbau von Mess­in­stru­menten, die Migra­ti­ons­ver­läufe anzeigen sollen. Ein verstärkter Schutz an den EU-Außen­grenzen soll zudem die soge­nannte Schleu­ser­kri­mi­na­lität“ nach­haltig bekämpfen. Bei der Aufnahme von Asyl­su­chenden hofft der Rat auf inter­na­tio­nale Unter­stüt­zung.

Durch die Corona-Pandemie treten aller­dings huma­ni­täre Heraus­for­de­rungen immer weiter in den Hinter­grund – so auch der euro­päi­sche Umgang mit Asyl­su­chenden. Das Nicht-Handeln der EU in Krisen­si­tua­tionen wird von Seenotretter*innen wie Mattea Weihe scharf kriti­siert. Sie ist Cultural Mediator bei Sea-Watch und meint dazu: Die Corona-Pandemie wird von euro­päi­schen Politiker*innen als Ausrede benutzt, sich nicht ihrer Verant­wor­tung stellen zu müssen, Menschen­leben zu retten.“

EU

Die EU betrifft uns alle! © Dijana Kolak

Von Berlin nach Lissabon

Am Ende dauert die deut­sche EU-Rats­prä­si­dent­schaft nur ein halbes Jahr. Das ist wenig Zeit, um grund­le­gende Ände­rungen herbei­zu­führen. Dabei treten die unter­schied­li­chen Rats­for­ma­tionen nur zwei Mal zusammen. Einen großen Umbruch wird es mit der deut­schen Rats­prä­si­dent­schaft deshalb vermut­lich nicht geben. Auch mit der Präsi­dent­schaft Portugals und Slowe­niens wird die EU keine Kehrt­wende hinlegen. Minna Ålander denkt aber, dass trotzdem etwas bewegt werden kann: Klar ist, dass Deutsch­land vieles an die nach­fol­gende portu­gie­si­sche Präsi­dent­schaft über­geben muss; vor allem wenn es ins Detail in der Umset­zung der unter der deut­schen Rats­prä­si­dent­schaft verhan­delten Leit­li­nien geht“.


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