Flucht vs. Pandemie

Datum
09. Dezember 2020
Autor*in
Carla Moritz
Redaktion
politikorange
Themen
#NewsroomEurope 2020 #Politik
seenotrettung

seenotrettung

Menschen flüchten über das Mittel­meer, auch wenn die ganze Welt mit Covid-19 beschäf­tigt ist. Die Seenot­ret­tung kann sich daher keine Pause leisten. Carla Moritz berichtet über die Corona-bedingten Verän­de­rungen im Mittel­meer­raum.

Blockaden der Rettungs­schiffe, fehlende Lande­er­laubnis, keine staat­liche Unter­stüt­zung: Die Situa­tion für Flüch­tende und zivile Seenotretter*innen war schon vor der Corona-Krise erschwert. Durch die Auswir­kungen der Pandemie hat sich die Lage weiter verschärft. Die Corona-Krise hat unsere Arbeit extrem einge­schränkt“, sagt Mattea Weihe, Pres­se­spre­cherin der gemein­nüt­zigen Initia­tive Sea-Watch e.V. In einem Video-Gespräch erzählt sie von den Corona-bedingten Verän­de­rungen, die die zivile Seenot­ret­tung seit März erlebt.

Als Pres­se­spre­cherin von Sea-Watch arbeitet Mattea Weihe erst seit kurzem. Zuvor war sie ab 2017 als Teil der Crew bei der Sea-Watch an Board. Aufgrund ihrer Arabisch-Sprach­kennt­nisse war sie dort als Cultural Mediator“ die erste Ansprech­person für die Geret­teten.

Der durch Spenden finan­zierte Verein Sea-Watch e.V. grün­dete sich 2015, um Flüch­tende in Seenot im Mittel­meer zu retten. Ziel des Vereins: Sich selbst abschaffen, denn eigent­lich sei die Seenot­ret­tung nicht Aufgabe der Zivil­ge­sell­schaft, sagt Weihe. Sea-Watch fordert, dass die Euro­päi­sche Union für staat­liche Seenot­ret­tung und sichere, legale Einrei­se­wege sorgt. Bis dies der Fall ist, sehen sich die Mitglieder des Vereins in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass kein Mensch im Mittel­meer sterben muss. Neben Forde­rungen an die Politik tun sie dies durch den Einsatz zweier Rettungs­schiffe im Mittel­meer. Während die Crew in den Anfangs­jahren haupt­säch­lich aus poli­tisch moti­vierten Aktivist*innen bestand, stechen die Rettungs­schiffe heute mit für die Schiff­fahrt ausge­bil­deten Frei­wil­ligen und kultu­rellen Vermittler*innen in See. Dort halten sie Ausschau nach in Seenot gera­tenen Booten, retten die Passa­giere und bringen sie an einen sicheren Hafen. Seit Beginn der Pandemie ist diese Aufgabe durch einige Faktoren erschwert.

Vorbe­rei­tung der Einsätze war erst ab Mai wieder möglich

Sea-Watch selbst bezeichnet den Zeit­raum zwischen März und Anfang Juni aufgrund logis­ti­scher Schwie­rig­keiten und geschlos­sener Grenzen als Zwangs­pause“ für die Seenot­ret­tung. Mattea Weihe erzählt von den Problemen, die der Verein in dieser Zeit hatte: Unsere Schiffs­ope­ra­tionen haben sich extrem verzö­gert: Wir konnten nicht auslaufen, weil bestimmte Arbeiten in den Werften nicht gemacht werden konnten.“ Außerdem habe die Crew wegen der Reise­be­schrän­kungen und der Einschrän­kung des Flug­ver­kehrs nicht recht­zeitig da sein können.

Erst im Mai sei die Vorbe­rei­tung von Einsätzen wieder möglich gewesen. Der Verein hat ein Hygiene-Konzept entwi­ckelt, um die Crew und die Geret­teten vor einer mögli­chen Covid-19-Anste­ckung zu schützen: Vor und nach Einsätzen begeben sich die Crew­mit­glieder jeweils zwei Wochen in Klein­gruppen in Quaran­täne. Außerdem arbeiten sie komplett in Schutz­an­zügen. Das hat unsere Rettungs­ak­tionen extrem anstren­gend gemacht und ist eine große Heraus­for­de­rung“ so Weihe. An Bord werden die Geret­teten sofort mit Mund-Nasen-Schutz ausge­stattet. Alle sollen auf eine regel­mä­ßige Desin­fek­tion der Hände und Geräte achten. Wir versu­chen außerdem, dass der Abstand zwischen den Menschen einge­halten wird, um eine Anste­ckung in jede Rich­tung zu vermeiden.“ Warum dies auf einem Schiff mit 200 Geret­teten und der Crew schwierig ist, braucht sie nicht zu erklären.

Menschen fliehen trotz globaler Pandemie

Während Deutsch­land mit der Bewäl­ti­gung von Covid-19 beschäf­tigt war, blieb kaum noch Zeit über die Flucht im Mittel­meer­raum zu berichten. Bei vielen folgte der Trug­schluss: Die Pandemie habe nicht nur unsere Reisen und tägli­ches Leben zeit­weise pausiert, sondern auch für weniger flüch­tende Menschen gesorgt.

Doch Weihe schil­dert das Gegen­teil: Wenn Menschen ihr Land auf Grund von Krieg, Folter oder anderer Schwie­rig­keiten verlassen müssen, wird sie auch keine Pandemie davon abhalten. Wir sehen von den Zahlen der flüch­tenden Menschen her über­haupt keine Verän­de­rung.“

Diesen Eindruck bestä­tigen auch die Zahlen der Euro­päi­schen Agentur für die Grenz- und Küsten­wache Frontex. Laut Medi­en­be­richten kam es zwar im April zu einem starken Rück­gang bei der Zahl der flüch­tenden Menschen, im Mai seien aber wieder mehr Menschen über das Mittel­meer geflohen.

Corona-Pandemie als euro­päi­sche Über-Ausrede“

Doch während sich die Zahlen nicht verän­dert haben, habe die zivile Seenot­ret­tung mitt­ler­weile noch mehr Probleme bei der Ertei­lung von Lande­er­laub­nissen als vor der Pandemie. Die euro­päi­sche Politik nutzt die Pandemie massiv als Ausrede, Menschen­rechte zu verletzen“ sagt Weihe.

Laut dem Deut­schen Institut für Menschen­rechte müssen folgende Rechte einge­halten werden, auch während der Corona-Pandemie:

  • Rettung aus Seenot: Alle Schiffe, die im Mittel­meer unter­wegs sind müssen Schutz­be­dürf­tige in Seenot aufnehmen und an einen sicheren Ort bringen. Kein Schiff darf dabei behin­dert werden.
  • Aufnahme in EU: Schiffe unter dem Kommando der EU und ihrer Mitglied­staaten dürfen Schutz­su­chende nicht in Dritt­staaten, zum Beispiel Libyen, Marokko oder Tune­sien, zurück­bringen.
  • Schiffe von Dritt­staaten z.B. lybi­sche Küsten­wache: Schiffe von Dritt­staaten müssen Schutz­su­chende an einen sicheren Ort bringen. Geret­tete dürfen nicht in geschlos­sene Lager in Libyen gebracht werden. […]
  • Über­gabe von Geret­teten: Werden Kapi­täne ange­wiesen, aus Seenot gebor­gene Menschen an die liby­sche Küsten­wache zu über­geben oder Menschen auf See von der liby­schen Küsten­wache abge­drängt und zurück nach Libyen gebracht, ist das menschen- und seerechts­widrig.“

Während die zivile Seenot­ret­tung pausieren musste, war vor allem die liby­sche Küsten­wache im Mittel­meer aktiv. Laut dem Deut­schen Institut für Menschen­rechte bringt diese Geret­tete oft in geschlos­sene Lager.

Laut Weihe werden die Menschen- und Seerechte schon länger von den Mitglieds­län­dern der Euro­päi­schen Union igno­riert. Dabei habe man in der Corona-Krise nun eine Über-Ausrede“ gefunden, damit kein Mensch, der nicht aus Europa kommt, einen Fuß auf den Boden dieses Konti­nents setzt“. Die Pandemie werde genutzt, um das Recht auf Flucht zu verwehren. In Grie­chen­land durften Menschen wegen der Pandemie nicht an Land gehen, und es wurde erwartet, dass die Türkei sie zurück­nimmt“, so Weihe.

Beson­ders schwierig sei die Kommu­ni­ka­tion zwischen Seenot­ret­tenden und zustän­digen Rettungs­leit­stellen auf Malta: Das Land macht keine Anstalten noch in der Seenot­ret­tung aktiv zu sein und lässt Menschen wochen­lang auf kleinen Schiffen ausharren.“ Ein weiteres Problem: Auf der italie­ni­schen Insel Sizi­lien hatte der Regio­nal­prä­si­dent ein Dekret veröf­fent­licht, dass eine Schlie­ßung aller Aufnah­me­zen­tren und die Aufnahme von weiteren Migrant*innen verbot. Schluss­end­lich blieb das Dekret ohne Auswir­kungen, da die Entschei­dung nicht in die Verant­wor­tung der Region ist. Dennoch: die Begrün­dung für das ange­kün­digte Verbot war die Corona-Krise.

Eine neue Tendenz sei es, geflüch­tete Menschen auf soge­nannten Quaran­täne-Fähren unter­zu­bringen, erklärt Weihe. Auch die Schiffe der Sea-Watch über­geben ihre Geret­teten nun an die umfunk­tio­nierten Verkehrs­mittel. Mattea Weihe sieht dies kritisch: Ob es mensch­lich ist, Menschen auf Fähren zu halten, darüber kann man streiten“.

Der Pres­se­spre­cher des Bundes­in­nen­mi­nis­te­riums Steve Alter erklärte Anfang April, man sei sich der schwie­rigen Situa­tion der EU-Mitglied­staaten am Mittel­meer durchaus bewusst: Wir haben […] die Infor­ma­tion erhalten, dass es vor dem Hinter­grund der aktu­ellen Situa­tion um Corona nicht möglich sein wird, Rettungs­schiffe anlanden zu lassen und eine Ausschif­fung zu ermög­li­chen.“ Mit dem Anspruch verant­wort­lich zu handeln“ habe man daher Rettungs­or­ga­ni­sa­tionen unter deut­scher Flagge wie z.B. Sea-Watch über dieses Problem infor­miert. Weitere Maßnahmen der Bundes­re­gie­rung oder EU wurden nicht genannt.

Der Verein Sea-Watch wird laut Weihe auch trotz der Pandemie weiter­ma­chen. Wir finden es richtig, dass Corona ernst genommen wird, aber es kann nicht sein, dass deswegen Menschen im Mittel­meer ertrinken müssen“. Wenn die euro­päi­schen Länder sich weigern, geret­tete Flüch­tende aufzu­nehmen, kann der Verein keinen neuen Einsatz vorbe­reiten.

Unser Gespräch fand drei Tage vor den Bränden im Flücht­lings­lager Moria auf der grie­chi­schen Insel Lesbos statt, die Aufmerk­sam­keit für die Probleme Flüch­tender an der euro­päi­schen Grenze erzeugten.


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