Die Schuld der Geflüch­teten

Datum
06. April 2023
Autor*in
Jacqueline Scholtes
Redaktion
politikorange
Themen
#Ukraine23 #Gen Z
Foto: Moritz Heck

Foto: Moritz Heck

by Moritz Heck
Ukrainer Michael flieht mit seiner Familie vor dem Krieg als er 17 Jahre alt ist. Mitt­ler­weile ist er 18 und fragt sich, ob er gerade nicht lieber in seiner Heimat sein sollte.

Der 18-jährige Michael in Berlin. Foto: Moritz Heck

Der 18-jährige Michael in Berlin. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck

Ich könnte mir jeder Zeit ein Ticket kaufen und nach Kiew fahren“, sagt Michael in einem über­füllten Café in Berlin-Char­lot­ten­burg. Seit der Ukrainer 18 Jahre alt ist, lebt er in einem stän­digen Konflikt. Mit der Voll­jäh­rig­keit kommen Schuld­ge­fühle. Das Gefühl, seiner Heimat Unter­stüt­zung schuldig zu sein, ihr nicht den Rücken zu kehren, sondern dort sein zu müssen.

Er sagt, Geschichten wie seine gibt es zigfach. Viele junge Ukrainer flohen als Minder­jäh­rige und sind mitt­ler­weile voll­jährig. Nun stehen sie vor der Entschei­dung, ob sie wieder in die Ukraine zurück gehen oder im sicheren Ausland bleiben. Michael ist sich uneinig. Häufig fragt er sich, ob es ihn zu einem Verräter macht in Deutsch­land zu bleiben.

Das Zurück­lassen der Heimat

Als Putin und seine Soldaten die Ukraine im vergan­genen Februar über­fallen, war Michael 17 Jahre alt. Mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester flieht er nach Deutsch­land. Sein Vater und seine Groß­mutter bleiben in Kiew.

Bereits im Kindes­alter lernt Michael Deutsch, denn seine Mutter hat einen Plan: Zum Studieren soll ihr Sohn später mal nach Deutsch­land. Eigent­lich hat Michael darauf keine Lust. Er will lieber in Kiew bleiben. Dass er auf diesem Weg nun doch nach Deutsch­land kommt, war nicht so vorge­sehen.

Die Ukraine zu verlassen ist nicht leicht für Michael. Foto: Moritz Heck

Die Ukraine zu verlassen ist nicht leicht für Michael. Foto: Jugendpresse Deutschland e.V./ Moritz Heck

Bevor Michael 18 wurde, besuchte er die Ukraine noch zweimal. Angst hatte er in der von Krieg geplagten Heimat nicht. Er war froh, Freunde und Familie wieder zu sehen, endlich wieder in Kiew zu sein. Seit dem Eintritt in die Voll­jäh­rig­keit sind Besuche jedoch nicht mehr so leicht. Zwar hat er als Schüler keine Mobi­li­sie­rung zu befürchten, doch die Sorge nicht wieder ausreisen zu können, ist zu groß. Seiner Heimat bleibt er seither fern.

In Berlin besucht Michael ein Studi­en­kolleg. Mit zwei ukrai­ni­schen Klas­sen­ka­me­raden tauscht er sich über die Heimat aus. Einer der beiden will unbe­dingt zum Kämpfen an die Front. Er habe mit seinen Eltern bei einem Karten­spiel gewettet. Wenn er gewinnt, darf er gehen. Gewinnen die Eltern, muss er in Deutsch­land bleiben. Er verliert das Spiel und bleibt vorerst hier, erzählt Michael.

Im Café ist es laut. Menschen strömen ein und aus, Kinder spielen und rennen umher, aber Michael lässt sich nicht ablenken. Nur als sein Telefon klin­gelt – seine Mutter – wird er kurz nervös. Sie spre­chen mitein­ander und als sie auflegen, steigt er sofort wieder in seine Erzäh­lung ein.

Die Ukraine muss gewinnen!“

Michael zieht einen Kühl­schrank­ma­gneten aus seiner Hosen­ta­sche: die Sieges­göttin Nike. Ein Mitbringsel aus fried­li­cheren Zeiten. Eine Erin­ne­rung, die ihn traurig macht. Die Ukraine muss gewinnen,“ sagt er mit ernstem Blick. Der Magnet stammt vom Kühl­schrank der Familie in Kiew. Auf zahl­rei­chen Reisen sammelten sie früher gemeinsam diese Andenken. Zu Hause wurden sie sorgsam am Kühl­schrank aufge­hängt. Die Tür zu öffnen, ohne dass ein Magnet runter­fällt, war fast unmög­lich, erin­nert sich Michael. Ein paar dieser Magneten nimmt die Familie bei der Flucht nach Deutsch­land mit, andere schickt der Vater per Post nach. So fühlt sich die enge Wohnung in Berlin wenigs­tens ein biss­chen nach zuhause an.

Michael plant, in Berlin Geistes- oder Sozi­al­wis­sen­schaften zu studieren. Der 18-Jährige begeis­tert sich vor allem für Geschichte. Er ist dankbar für die Gast­freund­schaft und fühlt sich im multi­kul­tu­rellen Berlin wohl. Doch trotz seiner Pläne für ein Leben in Deutsch­land wird klar: Hier bleiben will der junge Ukrainer eigent­lich nicht. Michael will nach Hause, in die Ukraine, nach Kiew. Im Gepäck den Magneten der Nike. Wenn sie wieder in Michaels Wohnung in Kiew einzieht, zieht auch Frieden in der Ukraine ein. Und in Michaels Leben.


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