Das ist eine reale Gefahr.“

Datum
02. September 2024
Autor*in
Christian Lütgens
Redaktion
Jugendpresse Deutschland
Themen
#LTWTH #Interview
Chritian TB

Chritian TB

Jens-Chris­tian Wagner erscheint gut gelaunt zum verab­re­deten Video-Inter­view. Nicht selbst­ver­ständ­lich, denn er, Leiter der Stif­tung Gedenk­stätten Buchen­wald und Mittelbau-Dora, blickt mit Sorge auf die Wahl­er­geb­nisse in Thüringen. Nicht zuletzt, weil ihn jüngst Mord­dro­hungen erreicht haben. Verwun­dert darüber ist er nicht: Rechts­extreme hätten es in Thüringen schon immer leicht gehabt. Doch es gibt einen Unter­schied mit Blick auf die Geschichte.

Herr Wagner, Sie wurden zuletzt wieder­holt bedroht, beispiels­weise mit retu­schierten Bildern von Ihnen am Galgen­strick. Wie geht es Ihnen eigent­lich?

Mir geht es gut. Diese Leute wollen einschüch­tern und diesen Gefallen sollte man ihnen nicht tun. Ich kann nicht behaupten, dass eine Parole wie Ein Galgen, ein Strick, ein Wagner­ge­nick“ völlig spurlos an mir vorbei­geht. Natür­lich macht das was mit einem. Aber davon sollte man sich nicht allzu sehr beein­dru­cken lassen.

Feinde der Demo­kratie wagen sich zuneh­mend aus der Deckung, eigent­lich Unsag­bares wird wieder sagbar. Warum gerade jetzt?

Wir erleben das ja eigent­lich seit Jahren, dass die extrem rechte Szene sich radi­ka­li­siert. Sie hat leider auch Zuspruch unter nicht wenigen Mitmen­schen, insbe­son­dere hier in Thüringen, aber auch in anderen Bundes­län­dern. 

Sie haben in der letzten Ausgabe des Spiegel gesagt, Thüringen sei perfekt für Repu­blik­feinde“.

Thüringen ist ein länd­lich geprägtes Bundes­land. Zugleich ist das Phänomen rechts­po­pu­lis­ti­scher und rechts­extremer Posi­tionen gegen die libe­rale Demo­kratie und eine viel­fäl­tige Gesell­schaft ja auch ein Gegen­satz zwischen Stadt und Land. Erstens hat es die AfD in länd­li­chen Gebieten deut­lich leichter. Zwei­tens hat sie es in klas­sisch protes­tan­tisch geprägten Gebieten leichter als in katho­lisch geprägten, weil es in letz­teren noch eine starke sozial-mora­li­sche Bindung an die CDU gibt, wie etwa im Thüringer Eichsfeld. 

Und warum diese Drohungen hier und jetzt?

Ich habe solche Drohungen auch früher schon bekommen, aber jetzt war es doch relativ massiv. Und das ist ganz konkret eine Folge der aufge­heizten Stim­mung vor den Land­tags­wahlen und noch konkreter auch Folge eines Briefes, den wir, finan­ziert über Campact, an alle über 65-jährigen Thürin­ge­rinnen und Thüringer verschickt haben. Über diese Post­wurf­ak­tion hat der Landes­vor­stand der AfD gezielt Desin­for­ma­tion verbreitet. Unter anderem, dass wir Steu­er­gelder dafür verwendet hätten, was nicht wahr ist. Außerdem, dass wir gegen den Daten­schutz verstoßen hätten, was genauso Mumpitz ist, weil das eine Post­wurf­sen­dung ist. Wir haben die Adressen über­haupt nicht. Das läuft über Verteiler der Deut­schen Post. Trotzdem hat diese Hass­kam­pagne einige Menschen veran­lasst, wirk­lich sehr, sehr böse und belei­di­gende bis hin zu bedro­henden Nach­richten zu schi­cken. 

350.000 Briefe haben Sie verschickt – aller­dings nur an über 65-jährige. Warum?

Hätten wir mehr Geld gehabt , hätten wir die Briefe auch an alle Jüngeren geschickt. Zudem haben wir uns auf eine Ziel­gruppe beschränkt, von der wir ausgehen, dass sie viel­leicht für digi­tale Infor­ma­tion nicht so zugäng­lich ist. Außerdem haben wir letztes Jahr bei der Bürger­meis­ter­wahl in Nord­hausen, dem Standort unserer zweiten Gedenk­stätte Mittelbau-Dora, die Erfah­rungen gemacht, dass es die älteren Menschen waren, die am Ende dazu beigetragen haben, dass wider aller Voraus­sagen der demo­kra­ti­sche Ober­bür­ger­meis­ter­kan­didat die Wahl gewonnen hat. 

Die Älteren haben’s gerettet?

Junge Menschen sind mitt­ler­weile in der vierten Gene­ra­tion und die haben Groß­el­tern, die die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Verbre­chen gar nicht mehr selbst erlebt haben. Das ist für sie auf den ersten Blick irgend­etwas, was im fins­teren Mittel­alter statt­ge­funden hat. Das mag ein Grund sein. Der zweite Grund ist, glaube ich, dass jüngere Menschen sehr viel stärker auf Social Media unter­wegs sind. Und ich glaube, dass die Digi­ta­li­sie­rung unserer Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft in den letzten Jahren dazu beigetragen hat, dass sich rechts­extreme Einstel­lungen, Anti­se­mi­tismus, Rassismus oder Queer-Feind­lich­keit weiter­ver­breiten konnten, weil Wissens­an­eig­nung und Meinungs­bil­dung eben mitt­ler­weile im Netz statt­findet.

Da werden massiv geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Legenden geteilt.

Wenige Klicks und man landet bei Holo­caust-Leug­nern.

Noch vor 20, 30 Jahren musste man sich Holo­caust-verharm­lo­sende Bücher bei obskuren Verlagen mit Post­fach­adressen besorgen. Da ist man gar nicht so leicht range­kommen. Heut­zu­tage sind das zwei Klicks, die ich brauche, um auf geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Desin­for­ma­tion zu stoßen. So etwas verbreitet sich viral, setzt sich in den Köpfen fest. Und das merken wir zum einen bei den Besu­che­rinnen und Besu­chern der Gedenk­stätten, aber natür­lich auch, wenn wir die Kommen­tare unter unseren Posts beob­achten. Da werden massiv geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Legenden geteilt. 

Einer dieser Kanäle ist X, vormals Twitter: Dort und woan­ders sind Sie sehr aktiv – warum? Spätes­tens seit Elon Musks Über­nahme stehen Demo­kra­tie­feinden ja wieder Tür und Angel offen.

Bis vor zwei Jahren etwa war ich ein großer Fan von Twitter und wir haben wirk­lich auch gute Erfah­rungen gemacht, weil man darüber wich­tige Ziel­gruppen wie Jour­na­listen und Poli­ti­ke­rinnen erreicht hat, aber auch Wissen­schaftler. Da war Twitter tatsäch­lich ein Medium, um sich auszu­tau­schen. Das ist mitt­ler­weile anders geworden unter Musk. Und tatsäch­lich ist das hoch­gradig ambi­va­lent, da immer noch aktiv zu sein. 

Viele haben der Platt­form den Rücken gekehrt und erst kürz­lich hat sogar Brasi­lien den Dienst wegen Desin­for­ma­tion und Hetze landes­weit gesperrt.

Ja, mittel­fristig werde ich selbst und wird sicher­lich auch die Stif­tung Twitter verlassen. Wir haben es bisher noch nicht gemacht, aus zwei Gründen: Die Alter­na­tiven, die es gibt, sind nicht wirk­lich erfolg­reich. Darüber hinaus sind die Multi­pli­ka­toren, die wir über Twitter errei­chen, größ­ten­teils noch dort, also zum Beispiel Vertreter der Medien, aber auch Poli­ti­ke­rinnen und Poli­tiker. Das Haupt­ar­gu­ment ist, dass Twitter jetzt einer Person gehört, die versucht, damit Geld zu verdienen und mitt­ler­weile selbst im extrem rechten Milieu ange­sie­delt ist. 

Wie sieht das offline aus: Bemerken sie diese geschichts­re­vi­sio­nis­ti­schen Parolen in der Gedenk­stätte?

Ja, doch das ist immer noch eine sehr kleine Minder­heit, die so etwas macht. Aber eine Minder­heit, die zuneh­mend im Brustton der Über­zeu­gung auftritt, und zwar zuneh­mend laut und aggressiv. Wobei das nicht immer auch so anfängt. Meis­tens fängt das an mit irgend­wel­chen Signal­wör­tern oder Signal­fragen. 

Das Phänomen des Dogwhist­lings, also wenn wie bei einer Hunde­pfeife nicht alle dasselbe hören.

Genau. Dann wird man gefragt: Ja, jetzt haben wir viel über Buchen­wald gehört und das ist ja auch alles ganz schreck­lich, was Sie erzählt haben. Aber jetzt sagen Sie doch mal was über die Rhein­wie­sen­lager, die Luft­an­griffe auf die deut­schen Städte, die Vertrei­bung aus den Ostge­bieten, die euro­päi­sche Unter­wer­fung der Indi­genen in Amerika, die Skla­verei, Guan­ta­namo… Das begegnet uns massiv. 

What­a­bou­tism wie ihn auch die AfD betreibt. Die in Teilen rechts­extreme Partei feiert – unab­hängig ob regie­rungs­be­tei­ligt oder nicht – einen großen Erfolg bei der Wahl in Thüringen. Inwie­fern beein­flusst das Ihre Gedenk­stät­ten­ar­beit?

Zum einen in ideo­lo­gi­scher Hinsicht, indem natür­lich die gegen die Gedenk­stät­ten­ar­beit gerich­tete Posi­tionen, die aus der AfD kommen, gestärkt werden. Wenn diese Partei erstarkt, werden sich geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Posi­tionen in den Köpfen weiter fest­setzen. Und das andere ist eine ganz prak­ti­sche Folge: Wenn die AfD beispiels­weise eine Sperr­mi­no­rität bekommt und damit Einfluss auf die Tages­ord­nung des Land­tags hat, kann sie beispiels­weise verhin­dern, dass ein Haus­halt verab­schiedet wird. Völlig unab­hängig davon, ob sie an der Regie­rung betei­ligt ist oder nicht, kann das dann Folgen für unsere Arbeit haben. 

Inwie­fern?

Wir bekommen unser Geld zu 50 Prozent aus dem Landes­haus­halt, die andere Hälfte kommt aus dem Bundes­haus­halt. Wenn unser Landes­haus­halt nicht verab­schiedet wird oder im Landes­haus­halt unsere Zuwen­dungen redu­ziert werden, dann werden wir letzten Endes unsere Bildungs­ar­beit hier nicht mehr machen können. Das ist eine reale Gefahr. Es gibt dann in Thüringen noch eine Gedenk­stätte an einem Außen­lager-Standort. Das ist die kleine Gedenk­stätte Laura im Thüringer Wald. Deren Arbeit wird vom Land­kreis Saal­feld-Rudol­stadt finan­ziert. Wenn dort die AfD die Mehr­heit bekommt, können diese Zuwen­dungen sehr schnell auf Null gesetzt werden, denn das sind soge­nannte frei­wil­lige Leis­tungen, zu denen ein Land­kreis nicht verpflichtet ist.

Rechts­extreme haben es hier tradi­tio­nell immer leicht gehabt.

Hat der für rechte Parolen frucht­bare thürin­gi­sche Boden auch histo­ri­sche Gründe?

Rechts­extreme haben es hier tradi­tio­nell immer leicht gehabt. Da gibt es Konti­nui­täts­li­nien. Thüringen war in den 20er-Jahren bereits ein Sprung­brett für die Natio­nal­so­zia­listen. Es gibt drei Thüringer Sünden­fälle auf dem Weg zum NS-Staat: 1924 die erste Tole­rie­rung einer bürger­li­chen Minder­heits­re­gie­rung durch Natio­nal­so­zia­listen im Deut­schen Reich. 1930 die erste Koali­ti­ons­re­gie­rung mit Natio­nal­so­zia­listen und 1932 die erste NSDAP-geführte Landes­re­gie­rung. Alles in Thüringen. 

Geschichte wieder­holt sich nicht, aber reimt sich, heißt es.

Schon, nun gibt es auch etliche Unter­schiede zu den 20er- und 30er-Jahren und man sollte vorsichtig sein mit falschen histo­ri­schen Analo­gien. Aber tatsäch­lich kann der Blick auf die Geschichte ja Wach­sam­keit stärken, zum Beispiel indem man den bürger­lich-konser­va­tiven Parteien sehr deut­lich sagt: Lernt bitte aus den Fehlern eurer poli­ti­schen Vorgänger und geht keinerlei Koope­ra­tion mit der AfD ein, auch keine infor­melle Tole­rie­rung oder was auch immer. Keine Abspra­chen. Das muss man ihnen ganz deut­lich sagen. Und Mario Voigt sagt auch, dass er das nicht tun wird. Ihm selbst nehme ich das auch ab. Es gibt aller­dings in der zweiten und dritten Reihe der CDU durchaus Menschen, die mit einer Zusam­men­ar­beit lieb­äu­geln. Das macht mir tatsäch­lich Sorgen. Und dann haben wir noch ein weiteres, großes Sorgen­kind in Thüringen… 

… Sie meinen das Bündnis Sarah Wagen­knecht (BSW), bislang ja eine große Blackbox, eine Projek­ti­ons­fläche.

Genau. Bei dem ist gerade erst raus­ge­kommen, dass einer der maßgeb­li­chen Poli­tiker ein früheres AfD-Mitglied ist. Und da verwun­dert es dann nicht, dass aus den Reihen des BSW eine Zusam­men­ar­beit mit der AfD als möglich ange­sehen wird. Es könnte wirk­lich eine Kata­strophe für Thüringen werden, sollte es eine Koali­tion aus BSW und AfD geben. 

Welchen Einfluss hätte ein starkes BSW mit even­tu­eller Regie­rungs­be­tei­li­gung auf Ihre Gedenk­stätte?

Ich habe mir das Wahl­pro­gramm des BSW in Thüringen ange­sehen. Es ist außer­or­dent­lich dünn. Der Vorteil ist, dass man es sehr schnell lesen kann. Da steht sogar was drin von Gedenk­stätten-Förde­rung im Gegen­satz zur AfD. Da steht sowas natür­lich über­haupt nicht drin. Im Gegen­teil. Ein Haupt­thema des BSW jeden­falls ist sicher­lich das Thema Ukrai­ne­krieg und Putin-Nähe. Das spielt eine ganz starke Rolle. Dann appel­liert das BSW – ähnlich wie es die AfD tut – an niedere Instinkte oder an Ressen­ti­ments gegen­über der Moderne.

Es gibt Über­schnei­dungen zwischen BSW und AfD.

In Thüringen hängen BSW-Plakate, auf denen steht Rechnen statt Gendern“.

Es gibt durchaus Über­schnei­dungen zwischen den beiden Parteien, beispiels­weise hinsicht­lich einer gewissen auto­ri­tären Prägung. Ich halte das BSW für eine leni­nis­ti­sche Partei, die gleich­wohl auch natio­na­lis­ti­sche Posi­tionen vertritt, migra­ti­ons­feind­liche und gene­rell anti­li­be­rale, anti­mo­derne Posi­tionen. Und da ist man in Teilen deckungs­gleich mit der AfD, ganz jenseits einer Hufeisen-Theorie. Im Übrigen halte ich das BSW nicht für eine linke Partei. Es ist eine mindes­tens popu­lis­ti­sche Partei. Und das Ganze dann noch garniert mit einer Form von DDR-Nost­algie und Anti­ame­ri­ka­nismus. Der spielt eine überaus starke Rolle und ist eine Paral­lele zur AfD. 

Das BSW in Regie­rungs­ver­ant­wor­tung – der Worst Case?

Sollte es zu einer BSW-Betei­li­gung an der Regie­rung kommen, dann müssen wir damit umgehen, dass Mitglieder dieser Partei die Regie­rung mittragen. Ein schöner Gedanke ist das nicht, aber kein so kata­stro­phaler, wie die AfD in der Regie­rung zu haben, weil diese dezi­diert geschichtsrevisionistische,Holocaust-verharmlosende und sogar ‑leug­nende sowie NS-verherr­li­chende Posi­tionen verbreitet. Das kommt aus dem BSW nicht. Das ist tatsäch­lich ein Unter­schied. 

Wo Sarah Wagen­knecht ist, ist es mit Sehn­sucht an eine verklä­rende Vergan­gen­heit, die es so wohl nie gab, nicht weit. Wie steht es grund­sätz­lich um den Schatten der DDR?

Ich glaube tatsäch­lich, dass die DDR-Prägung, ihre Geschichte und ihre Folgen nach 1990 eine große Rolle spielen. Die Trans­for­ma­ti­ons­phase in den 90er-Jahren, das Gefühl, gede­mü­tigt worden zu sein, aber auch die ganz reale Situa­tion, dass viele, viele Menschen in Arbeits­lo­sig­keit gestürzt wurden und viele, gerade die Älteren, auch nicht mehr auf die Füße gekommen sind. Das hat sicher­lich Spuren hinter­lassen. Und zwar nicht nur bei denen, die damals direkt betei­ligt waren oder Opfer dieser Trans­for­ma­tionen geworden sind, sondern auch bei deren Kindern und Kindes­kin­dern. Sowas wird in der Familie weiter­ge­geben, übri­gens auch in den Schulen. Doch häufig wird nicht genug darauf geblickt, dass auch die Zeit vor 1989, glaube ich, für die Prägung von poli­ti­schen Einstel­lungen in Ostdeutsch­land eine starke Rolle spielen. Ich meine die auto­ri­täre, anti­west­liche, anti­ame­ri­ka­ni­sche, anti­zio­nis­ti­sche Sozia­li­sa­tion der Menschen in der DDR. Und die merk­würdig ambi­va­lente Haltung gegen­über dem Staat: einer­seits der Glaube, dass er alles für mich tun muss und für mich entscheidet, ande­rer­seits ein tiefes Miss­trauen gegen­über dem Staat. 

Das klingt schi­zo­phren.

In der Tat. Auch die DDR-Geschichts­po­litik spielt meines Erach­tens eine Rolle. Wir müssen fest­stellen, dass die Geschichts­bilder der SED für rechts­extreme west­deut­sche geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Posi­tionen durchaus anschluss­fähig sind. Ich will versu­chen, es zu erklären. 

Bitte.

Das Geschichts­bild der DDR folgte der Dimitroff´schen These. Also der These, dass der Faschismus die Herr­schaft der aggres­sivsten Kreise des Mono­pol­ka­pi­tals gewesen sei. Nach 1945 sind die Mono­pol­ka­pi­ta­listen natür­lich alle in den Westen verschwunden. Deswegen hieß auch die erste Dauer­aus­stel­lung in Buchen­wald Die Blut­spur führt nach Bonn“. Deswegen war der Schwur von Buchen­wald, der von den Häft­lingen am 19. April 1945 gespro­chen wurde, gewis­ser­maßen das Leit­bild der DDR, In einer Zeile heißt es: Die Vernich­tung des Faschismus mit all seinen Wurzeln ist unsere Losung.“ 

Mit welchen Folgen?

Das wurde in der DDR massiv verbreitet. Die Wurzeln des Faschismus seien natür­lich der Kapi­ta­lismus und der Impe­ria­lismus west­li­chen Zuschnitts, auch das ist anti­ame­ri­ka­nisch aufge­laden. Man kann es sogar anti­se­mi­tisch einlesen. Stich­wort Ostküste“. Dieses Geschichts­bild wurde hier in Buchen­wald inhalt­lich vertreten. Aber wenn man sich dieses DDR-Geschichts­bild vor Augen führt, das sehr stark anti­west­lich, anti­li­beral, anti­ame­ri­ka­nisch aufge­laden war, dann hat das sozu­sagen eine innere Logik, wenn die Weimarer Montags­spa­zier­gänger“, eine krude Mischung aus AfD, Reichs­bürgen und Putin-Anhän­gern, bei ihrer Hetze gegen die libe­rale Demo­kratie und die angeb­liche Ampel-Diktatur die Schwur­hand des DDR-Mahn­mals in Buchen­wald von 1958 als Logo miss­brau­chen und damit behaupten, die stünden in der Tradi­tion des anti­fa­schis­ti­schen Wider­stand­kampfes. Diese Leute verbreiten dezi­dierte NS-Verherr­li­chung und behaupten zugleich, Anti­fa­schisten zu sein: irre. 

Und natür­lich wird auch von vielen ganz bewusst Begriffs­ver­wir­rung betrieben, mit Nazi“ und Faschist“, um gewis­ser­maßen der Gegen­seite ein Argu­ment zu nehmen, indem der Begriff dermaßen entleert wird, dass er in der poli­ti­schen Ausein­an­der­set­zung gar nicht mehr einge­setzt werden kann. 

Wie kann eine leben­dige Erin­ne­rungs­kultur aussehen, die nicht all die Arbeit bei Ihnen als Gedenk­stätte abstellt?

Zwei Dinge. Erstens glaube ich, dass es wirk­lich notwendig ist, dass wir uns auch poli­tisch sehr viel stärker mit der DDR ausein­an­der­setzen, aber auch mit den Ereig­nissen 1989. Wir müssen schauen, was denn 1989 vor Ort passiert ist. Dieje­nigen, die jetzt auf der Straße stehen und behaupten, sie kämpften gegen das Ampel­re­gime, so wie sie vor 35 Jahren gegen das DDR-Regime gekämpft hätten – das ist ja Mumpitz. Es gibt ein paar ehema­lige Bürger­rechtler, die tatsäch­lich im rechts­po­pu­lis­ti­schen und rechts­extremen Milieu mitt­ler­weile veran­kert sind. Aber die meisten, die da jetzt auf den Straßen herum­laufen, die saßen 1989 zu Hause und sind allen­falls erst auf die Straße gegangen, als es keinerlei Gefahr mehr bedeu­tete. 

Und zwei­tens?

Wir müssen insge­samt in der Gesell­schaft stärker darauf achten, dass unsere Erin­ne­rungs­kultur nicht nur darin besteht, um die Opfer zu trauern oder sich sogar mit ihnen zu iden­ti­fi­zieren. Das ist meines Erach­tens eine Anma­ßung aus der Post-Täter­ge­sell­schaft heraus. Wir müssen fragen, warum diese Leute über­haupt zu Opfern wurden. Das heißt, danach zu fragen, wer sie zu Opfern gemacht hat, wer die Mittäter und Mittä­te­rinnen waren, wer die Profi­teure waren. Und wir müssen uns fragen, wie die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Gesell­schaft als eine radikal rassis­tisch und anti­se­mi­tisch ‑formierte Gesell­schaft funk­tio­niert hat. Diese Gesell­schaft stand auf zwei Säulen: den Inte­gra­ti­ons­an­ge­boten an die propa­gierte Volks­ge­mein­schaft“ und Ausgren­zung, Verfol­gung und Mord an denen, die nicht dazu­ge­hören sollten. Die Deut­schen hat es nicht gestört zu hören: Euch geht es besser, wenn es anderen schlechter geht. Ganz im Gegen­teil. Das haben sie gerne gehört und es hat mehr Bindungs­kräfte an das Regime frei­ge­setzt. Genauso wie Ideo­lo­gien der Ungleich­wer­tig­keit, völki­sche Leis­tungs­ideo­lo­gien oder die Unter­schei­dung zwischen Produk­tiven oder Unpro­duk­tiven. 

Das klingt nach der Bürger­geld-Debatte.

Ja. Das sind alles Dinge, die man zunächst wissen­schaft­lich sauber quel­len­ge­stützt aus der Geschichte heraus­ar­beiten muss. Und dann kann man Aktua­li­täts­be­züge herstellen und fragen: Wie sieht es denn heute aus mit Ideo­lo­gien der Ungleich­wer­tig­keit, mit Produk­ti­vi­täts­ideo­logie, mit Verhei­ßungen der Ungleich­heit, die gerade ja auch von der AfD in die Welt gesetzt werden? Das ist in meinen Augen eine kritisch-refle­xive, wissen­schaft­liche und quel­len­ge­stützte Ausein­an­der­set­zung mit aktu­ellem Bezug. Das müssen wir stärker machen.

Das ist ein Unter­schied zu 1933.

Sie haben in einem älteren Inter­view gesagt, dass die gegen­wär­tigen Entwick­lungen sich wie ein erin­ne­rungs­po­li­ti­scher Klima­wandel anfühlen. Wagen Sie eine meteo­ro­lo­gisch-meta­pho­ri­sche Einord­nung anläss­lich der Land­tags­wahlen in Thüringen?

Tja, viel­leicht hat sich der Klima­wandel zur Klima­krise gestei­gert? Es ist noch nicht zu Klima­ka­ta­strophe, aber zur Klima­krise auf jeden Fall. 

Das klingt mindes­tens besorg­nis­er­re­gend.

Ja, das hat aber nicht nur mit der AfD zu tun, sondern auch mit dem zeit­li­chen Abstand zu 1945. Mit dem Umstand, dass es eigent­lich kaum noch Menschen gibt, die den Natio­nal­so­zia­lismus selbst erlebt haben. Der Schutz­schirm, den die Über­le­benden über unsere Arbeit gespannt haben, gibt es nicht mehr. Wenn sich vor zehn Jahren so etwas geregt hätte wie jetzt mit der AfD, dann hätte es die breite Protest­wand der Über­le­benden gegeben. Das ist jetzt kaum noch möglich. Und demnächst werden wir komplett alleine dastehen. Deswegen brau­chen wir auch die Zivil­ge­sell­schaft, die uns unter­stützt. Und die haben wir hier in Thüringen. 

Beispiels­weise die Initia­tive Welt­of­fenes Thüringen“.

Die ist wirk­lich gut ange­laufen. Da bin ich sehr froh. Und das ist übri­gens auch ein Unter­schied zu 1933. Da gab es diese breite Unter­stüt­zung für den libe­ralen Rechts­staat, für die offene, für viel­fäl­tige und moderne Gesell­schaft nicht. Die haben wir jetzt trotz aller Wahl­er­folge der Rechts­extremen. 

Danke für das Gespräch, Herr Wagner.


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