Aus dem Norden, in den Bundestag?

Datum
20. September 2021
Autor*in
Julius Kölzer
Redaktion
politikorange
Themen
#BTW21 #Wahlen
Aufacher_Wahlplakat des SSW an der Kieler Förde (Privates Foto)

Aufacher_Wahlplakat des SSW an der Kieler Förde (Privates Foto)

Die Partei der däni­schen und frie­si­schen Minder­heit will in den Bundestag. Die Chancen stehen gut, denn die Kampagne der Partei geht über die klas­si­sche Klientel hinaus. Julius Kölzer hat sich die Partei genauer ange­schaut.

Im Osten zieht ein Sturm auf. Unsere Nord­männer dort bringen nicht genü­gend Silber Heim“, brüllt der in Ketten­hemd und Schaf­mantel geklei­dete Wikinger der Dorf­ge­mein­schaft entgegen. Wenn der Sommer vorüber geht, ziehen wir in den Osten, um die Gunst der Götter zurück zu gewinnen!“ Was, zumin­dest bis das Wort erneu­er­bare Ener­gien“ fällt und ein Mann im Anzug aus der jubelnden Menge hervor­tritt, wie eine neue Folge Vikings wirkt, entpuppt sich als Wahl­spot des Südschles­wig­schen Wähler­ver­bandes (SSW) – die Partei der däni­schen und frie­si­schen Minder­heit. Dieses Jahr möchte sie den Sprung in den Bundestag schaffen. Das eigent­lich skur­rile ist dabei nicht der Spot: Obwohl die meisten Deut­schen außer­halb von Schleswig-Holstein wohl noch nie vom SSW gehört haben, könnte ihm der Einzug ins Bundes­par­la­ment bei der anste­henden Wahl tatsäch­lich gelingen.

Der SSW ist in Schleswig-Holstein, das nach der Barschel-Affäre und der Nicht­wahl von Heide Simonis schon öfters Schau­platz poli­ti­scher Eigen­ar­tig­keiten war, seit den 50er Jahren fest in der poli­ti­schen Land­schaft veran­kert. Als Partei einer natio­nalen Minder­heit ist der SSW nämlich seit 1955 in Schleswig-Holstein von der 5% Hürde befreit und seitdem durch­ge­hend im Kieler Landtag vertreten. Von 2012 bis 2017 war die Minder­hei­ten­partei in der soge­nannten Küsten­ko­a­liton“ mit SPD und Grünen sogar erst­mals Teil einer Landes­re­gie­rung.

Zwar versteht sich der SSW in erster Linie als Vertre­tung der 50.000 Mitglieder der däni­schen Minder­heit sowie der 10.000 Friesen und ist vor allem in einem kultu­rellen Netz­werk aus deutsch-däni­schen Schulen, Kinder­gärten, Vereinen und Kirchen veran­kert. Aller­dings ist der Wähler­ver­band mitt­ler­weile deut­lich über den Status einer reinen Minder­hei­ten­partei hinaus­ge­wachsen. Klar ist die Zwei­spra­chig­keit, die kultu­relle Verbin­dung zum däni­schen Mutter­staat, das Leben in der Grenz­re­gion und das gemein­same Aufwachsen in den Struk­turen der Minder­hei­ten­schulen das iden­ti­täts­stif­tende Wesens­merkmal der Partei. Gewählt und unter­stützt wird der SSW mitt­ler­weile jedoch auch südlich des kleinen Flüss­chens der Eider“ – also außer­halb des eigent­li­chen schles­wig­schen Kern­lands der Minder­heit.

Mission Bundestag?

Den Norden stärken“ zu wollen, ist das, was man dieser Tage überall in Schleswig-Holstein auf den Blau­gelben Plakaten der Partei lesen kann. Denn zum ersten Mal seit 60 Jahren tritt der SSW nun hier wieder zur Bundes­tags­wahl an.

Was seit Jahr­zehnten bei Land­tags­wahlen funk­tio­niert hat, soll jetzt auch für den Bund funk­tio­nieren. Auch wenn der Wunsch für eine Kandi­datur zum Bundestag seit langem in Teilen der Partei umher­schwirrt, ist der ange­zielte Sprung aus Schleswig-Holstein in den Bundestag sichtbar gewaltig. Zwar war die Partei der däni­schen Minder­heit bereits von 1949 bis 1953 im Bundestag vertreten – wo sie sich damals für einen Anschluss der Minder­heits­ge­biete an Däne­mark stark­machte. Doch noch in den späten 90er Jahren setzte sich der SSW in Schleswig-Holstein gegen eine Wahl­rechts­form ein, die die Minder­hei­ten­partei im gesamten Bundes­land auch außer­halb des eigent­li­chen Gebiets der Minder­heit wählbar machte. Grund dafür war das prägende Selbst­ver­ständnis der Partei, nachdem man sich vor allem als Inter­es­sen­ver­treter der däni­schen Minder­heit verstand. Entspre­chend intensiv waren deshalb auch die inner­par­tei­li­chen Debatten über eine mögliche Kandi­datur zur Bundes­tags­wahl. So brauchte es im vergan­genen Jahr mehrere Regio­nal­kon­fe­renzen und einen Partei­tags­be­schluss, bis der Antritt zur Bundes­tags­wahl in trockenen Tüchern war.

Mission Bundestag _ Kandidatin Maylis Roßberg (Foto - SSW Pressestelle)

Maylis Roßberg. Foto: Pressestelle SSW

Für Chris­to­pher Andresen, dem ehema­ligen Chef der partei­ei­genen Jugend­or­ga­ni­sa­tion SSW Ungdom, liegen die Gründe für die inner­par­tei­liche Skepsis gegen eine erneute Bundes­tags­kan­di­datur auf der Hand: Einige Leute sahen große bundes­po­li­ti­sche Themen einfach nicht als Teil der klas­si­schen Kern­an­liegen der Partei. Dazu kommt die Befürch­tung, dass die Partei den orga­ni­sa­to­ri­schen Aufwand nicht stemmen könne.“ Die 20-jährige Studentin Maylis Roßberg, die Platz Zwei der Landes­liste besetzt, hält die Teil­nahme zur Bundes­tags­wahl aller­dings für sinn­voll. Durch unsere Kandi­datur sind wir präsenter und errei­chen mit unseren Themen lang­fristig mehr Menschen, was natür­lich auch für die kommende Land­tags­wahl im nächsten Mai wichtig ist“, so Roßberg. Anführer an Bord der Mission-Bundestag“ ist der 41-jährige Spit­zen­kan­didat Stefan Seidler aus Flens­burg, der auch im Wahl­spot auftaucht. Roßberg und Seidler sind zwar nicht die promi­nen­testen Gesichter der Partei. Doch als junge Menschen stehen sie für den gewünschten frischen Wind, der das Wikin­ger­boot, das Symbol­bild der Kampagne, in den Bundestag tragen soll. Schließ­lich möchte man dieses Mal auch Menschen außer­halb der Kern­mi­lieus der Minder­heit errei­chen.

Deine Stimme für Schleswig-Holstein“

Der program­ma­ti­sche Kern der Kampagne ist daher ein Drei­klang aus Themen der Minder­heit, größeren Wahl­kampf­themen der Bundes­po­litik und der Inter­es­sen­ver­tre­tung von Schleswig-Holstein in Berlin. Ersteres soll wohl vor allem die Kernwähler*innen des SSW mobi­li­sieren. Zu deren Kern­themen gehören unter anderem die Forde­rung nach einer Veran­ke­rung der Rechte aller aner­kannten natio­nalen Minder­heiten im Grund­ge­setz, eine bessere Projekt­för­de­rung des Bundes für kultu­relle Einrich­tung und Schulen der däni­schen Minder­heit sowie die Einfüh­rung grenz­über­schrei­tender deutsch-däni­scher Studi­en­gänge und Ausbil­dungen. Die im Wahl­pro­gramm gefor­derte akti­vere Rolle des Bundes in der Minder­hei­ten­po­litik“, bezieht sich dabei auch auf Sinti und Roma sowie die Volks­gruppe der Sorben, den anderen natio­nalen Minder­heiten.

1257-1024

Wahlkampf an der Küste. Foto: Christopher Andresen

Poli­tisch einordnen kann man den SSW als links­li­be­rale Programm­partei irgendwo zwischen SPD, Grünen und Links­partei. Entspre­chend fordert die Partei beispiels­weise 13 Euro Mindest­lohn, eine bessere Bezah­lung von Pfle­ge­kräften, aktiven Klima­schutz durch Inves­ti­tionen in den ÖPNV sowie stär­keren Ausbau von Wind­energie und Photo­vol­taik. Verbunden werden die domi­nie­renden Wahl­kampf­themen mit regio­nalen Problem­stel­lungen – schließ­lich sind etwa die Auswir­kungen des Klima­wan­dels in Schleswig-Holstein allge­gen­wärtig. Der stei­gende Meeres­spiegel bedroht die Küsten Nord­fries­lands und den ökolo­gisch sensi­blen Natur­raum des Watten­meers, der zudem ein elemen­tarer Touris­mus­faktor in der Region ist.

Einge­rahmt werden die Forde­rungen durch den wohl wich­tigsten Programm­punkt: Einer stär­keren Vertre­tung von Schleswig-Holsteins Inter­essen auf Bundes­ebene. Entspre­chend präsent wirbt man daher mit Slogans wie Deine Stimme für Schleswig-Holstein“ oder Jetzt kommt der Norden“.

Die im Wahl­spot betonte Wahr­neh­mung, dass das Bundes­land im Vergleich zu anderen Bundes­län­dern benach­tei­ligt werde, zieht sich dementspre­chend quer durch den medialen Auftritt der Partei: Die schlechte Finan­zie­rung örtli­cher Kran­ken­häuser, das nied­rige Durch­schnitts­ein­kommen des Bundes­landes und das Fehlen von elek­tri­sierten Bahn­ver­bin­dungen, während Bundes­länder wie Bayern durch den CSU-Verkehrs­mi­nister bei der Vertei­lung von Bundes­mit­teln zum Stra­ßen­ausbau bevor­zugt würden. Dazu kommen Forde­rungen nach natio­nalen Ausgleichs­zah­lungen für die hohen Strom­preise, die man im windigen Schleswig-Holstein für den starken Ausbau von Winde­n­energie zahlen müsse, weil andere Länder bei der Ener­gie­wende nicht voran­kämen. Bei einem Einzug des SSW in den Bundestag würde also neben der CSU künftig auch eine zweite Regio­nal­partei speziell für die Inter­essen des eigenen Bundes­lands einstehen.

Wie sind die Chancen des SSW?

Die Kampagne des SSW geht also weit über die klas­si­schen Anliegen der Minder­heit hinaus, sagt Poli­tik­wis­sen­schaftler Prof. Dr. Wilhelm Knelangen von der Univer­sität Kiel: Die Wahl­kampf­kom­mu­ni­ka­tion der Partei ist deut­lich darauf ausge­richtet, sich als Partei des Nordens zu insze­nieren, um sich bei Wählenden als glaub­wür­dige Inter­es­sen­ver­tre­tung für hiesige Probleme zu präsen­tieren – was vor allem an den rheto­ri­schen Mitteln des medialen Auftritts auffällig wird.“ Auch wenn im Programm teils mit skan­di­na­vi­schen Lösungen geworben werde, spiele die Verwurz­lung in der Minder­heit eine eher weniger starke Rolle.

Dass der SSW vor allem um Wählende außer­halb der Minder­heit wirbt, ist einleuch­tend. Schließ­lich ist der Einzug für eine kleine Partei, die bisher nur auf Landes­ebene ange­treten ist, kein Selbst­läufer. Dennoch hat der SSW als Partei einer natio­nalen Minder­heit einen entschei­denden Vorteil auf ihrer Seite: Während alle anderen antre­tenden Parteien mindes­tens 5% der bundes­weiten Zweit­stimmen auf sich verei­nigen oder drei Wahl­kreise gewinnen müssen, um in den Bundestag zu kommen, hat es die Partei aus dem Norden deut­lich einfa­cher. Da der SSW als Partei natio­naler Minder­heit im Bundes­wahl­ge­setz auch bei bundes­weiten Wahlen von der 5% Hürde ausge­nommen ist, reicht es für ihn aus, mindes­tens so viele Stimmen auf sich zu verei­nigen, wie nötig sind, um in Schleswig-Holstein ein Mandat zu errei­chen“, so Prof. Knelangen. Im Ange­sicht der 49.000 Stimmen, die der SSW bei der letzten Land­tags­wahl vor 4 Jahren erreichte, scheint dies nicht unmög­lich zu sein. Nach Stimmen aus der Partei könnten nämlich schon 40.000 bis 50.000 Zweit­stimmen für einen Sitz reichen. Aller­dings sind die Höhe der Wahl­be­tei­li­gung und mögliche Über­hang­man­date ein Unsi­cher­heits­faktor.

Hinzu komme laut Knelangen, dass durch das knappe Rennen zwischen CDU und SPD das Anspre­chen von Wähler*innen außer­halb der Minder­heit eher schwie­riger geworden sei: Es wäre natür­lich einfa­cher für den SSW, wenn aus Sicht der Wähler*innen die große Frage, wer die Regie­rung führt, entschieden wäre. Menschen, die sich von den Inhalten der Partei eigent­lich ange­spro­chen fühlen, könnten unter den aktu­ellen Umständen dazu tendieren, eher größeren Parteien ihre Stimme zu geben, um etwa über die Kanz­ler­frage mitzu­ent­scheiden.“

Klas­si­scher­weise konkur­riert der SSW nämlich vor allem mit der SPD um ähnliche Wähler­mi­lieus. Grund dafür ist nicht nur die inhalt­liche Nähe durch die dänisch ange­hauchte Sozi­al­po­litik des SSW, sondern auch das schwie­rige Verhältnis zur Union: 2010 trieb CDU-Minis­ter­prä­si­dent Cars­tensen die däni­sche Minder­heit mit der geplanten Kürzung der Bildungs­mittel für deutsch-däni­sche Schulen auf die Barri­kaden.

Wohl viele Menschen dürften in den letzten Wochen zum ersten Mal mit dem SSW in Kontakt gekommen sein, denn die Programm­punkte der Partei finden sich nun auch im Wahl-O-Mat wieder. Tatsäch­lich wählbar ist der SSW aber nur in Schleswig-Holstein – dem Land zwischen Nord- und Ostsee, in dem Wikinger noch Wahl­wer­bung machen.


Empfohlene Beiträge

Werde Teil unserer Community

Entdecke spannende Geschichten, vernetze dich mit anderen jungen Journalist:innen und gestalte die Medienlandschaft von morgen mit. Melde dich jetzt an und bleibe immer auf dem neuesten Stand.

Wehrpflicht Redaktion Gruppenbild