Die Anfrage steigt: sowohl im Karrierecenter der Bundeswehr als auch bei Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerung. Viele Jugendliche stehen einer möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht kritisch gegenüber – für sie ist damit ein Jahr Lebenszeit verloren. Für andere steht die Bundeswehr für Karrierechancen und gesellschaftlichen Beitrag. Zwei junge Perspektiven.
Zwischen einem Schuhladen und einer Apotheke in der Berliner Friedrichstraße steht in einem unscheinbaren Raum eine uniformierte Schaufensterpuppe mit Schirmmütze und Schutzbrille. Hinter ihr steht an der Wand: „Mach, was wirklich zählt“. Es handelt sich um die Karrierelounge der Bundeswehr – die Idee dahinter: junge Menschen in einem niedrigschwelligen Rahmen über verschiedene Berufe in der Bundeswehr aufklären – und idealerweise dafür gewinnen. Heute sei bisher noch niemand gekommen, berichtet einer der zwei Feldjäger, die diese Woche hier im Dienst sind.
Ein „cooler Arbeitgeber“
Nur zwei Etagen höher, im Karriereberatungsbüro, steige hingegen die Anzahl der Beratungen von Interessierten aktuell massiv, sagt Feldwebelanwärter (FA) Uffz Alisan. Nach Verlängerung seines Freiwilligen Wehrdienstes (FWD) arbeitet er dort als Soldat auf Zeit. Laut eigenen Angaben wurden in den ersten zwei Quartalen dieses Jahres 11.300 Personen in der Bundeswehr neu eingestellt – rund 3.600 mehr als 2019. Einer davon ist Uffz. Der 23-Jährige sieht in der Bundeswehr einen „coolen Arbeitgeber“. Später möchte er als Feldwebel im Cyber-Informationsraum arbeiten – die dafür nötige Ausbildung zum Fachinformatiker ist parallel zum Dienst möglich und vergütet. Sie eröffnet ihm auch in der zivilen Welt Berufsperspektiven. Erstmal aber möchte Uffz in der Bundeswehr bleiben. Er wolle damit einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, sagt er.
Die Bundeswehr für junge Menschen attraktiver zu gestalten – etwa durch eine bessere Bezahlung und Sinnstiftung – ist ein zentraler Punkt des Regierungsplans für den Ausbau einer stärkeren Armee. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) erklärte im Juni dieses Jahres in Brüssel, dass er eine Zunahme um bis zu 60.000 aktive Soldat*innen zu den derzeitigen etwa 182.000 für notwendig halte, um die „Fähigkeitsziele“ der NATO zu erreichen. Dafür soll das Wehrdienst-Modernisierungsgesetz Anfang nächsten Jahres in Kraft treten. Es verpflichtet junge Männer zum einen dazu, einen Fragebogen auszufüllen, und zum anderen zu einer Musterung ab Juli 2027. Vor allem aber setzt es auf Freiwilligkeit. Die Regierungskoalition ist darin gespalten: Unionspolitiker*innen fürchten, das reiche für die Erfüllung der Ziele nicht aus und plädieren dafür, zurück zur Wehrpflicht zu kehren.
„Da guckt man, wer leidensfähig ist“
Die Idee findet Uffz Alisan grundsätzlich gut. Der 23-Jährige tritt im nächsten Jahr seinen Unteroffizierlehrgang in Delitzsch an, in dem er einen strikteren Ton rechnet als in seiner dreimonatigen Grundausbildung zu Beginn des FWD. Aber auch die beschreibt er als eine herausfordernde Zeit: „Früh aufstehen, Morgensport, strikter Ton — so, wie man sich die Bundeswehr typischerweise vorstellt. Da guckt man, wer leidensfähig ist.“ Wer sich längerfristig für das Militär verpflichten möchte, solle sich das gut überlegen. „Man muss sich bewusst machen, dass Tod und Verwundung eine Rolle spielen können“, betont Uffz Alisan. „Wir tragen diese Uniform nicht aus Spaß — im Ernstfall bezahlen wir mit dem Leben, um Menschen und die Demokratie in Deutschland zu schützen.“
„Ich weiß nicht, ob ich für dieses Deutschland sterben würde“
Joschua Giese hat für diesen Gedanken kaum Verständnis. „Ich weiß nicht, ob ich für dieses Deutschland sterben würde“, sagt er geradeheraus. „Vielleicht für meine Überzeugungen, aber ich würde nicht sagen, dass dieses Land zu meinen Überzeugungen gehört.“ Seine Freiheiten verdanke er vielmehr Kämpfen der Arbeiter*innenbewegung, findet er. Der 17-jährige ist Pressesprecher für das Berliner Bündnis gegen Waffenlieferungen und geht regelmäßig gegen Aufrüstung auf die Straße. Auch ist er für die Öffentlichkeitsarbeit der Linksjugend zuständig. „Ich sehe nicht ein, warum ich jemand anderen töten soll, nur weil er woanders geboren ist. Oder weil meine Regierung sagt, ich soll ihn umbringen“, sagt Joschua.
Steigende Nachfrage zur Beratung der Verweigerung
Viele junge Leute hätten angesichts einer möglichen Wehrpflicht aber weniger einen ideologischen Konflikt, sondern vor allem das Gefühl, ihnen würde Lebenszeit genommen werden. So nimmt Joschua Gespräche mit seinem Umfeld wahr. Vor kurzem hat er eine Straßenumfrage am Rosenthaler Platz für Instagram mit jungen Menschen geführt. „Es gab zwar ein paar, die pro Aufrüstung waren, aber ich habe nicht einen getroffen, der für den Wehrdienst war“, berichtet er. Repräsentative Umfragen decken sich mit seinen Ergebnissen. Laut einer Forsa-Umfrage vom September für Table.Media komme für 76 Prozent der Befragten 14- bis 29-Jährigen eine Bewerbung bei der Bundeswehr nicht infrage. 63 Prozent sprechen sich gegen eine Wehrpflicht aus.
Die Sorge um die eigene Zukunft nimmt auch Torsten Schleip als Hauptgrund dafür wahr, weshalb junge Menschen sich bei ihm zu einer möglichen Kriegsverweigerung beraten lassen. In den letzten Monaten hätten die Anfragen stark zugenommen, berichtet der Aktivist der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen: „Im Moment sind es ungefähr drei pro Tag, früher waren es drei pro Monat“.
Rechtlich problematisch
Wenn sich die sicherheitspolitische Lage verschärft, soll das neue Wehrdienstgesetz die Regierung dazu ermächtigen, die Wehrpflicht per einfacher Rechtsverordnung wieder einzuführen – ggf. auch ohne die Ausrufung eines Verteidigungsfalls. Der Jurist David Werdermann, der ein Gutachten im Auftrag von Greenpeace dazu verfasst hat, stuft den Gesetzentwurf als verfassungsrechtlich problematisch ein. Ein solch gravierender Eingriff in die Grundrechte junger Menschen erfordere ein formelles Gesetzgebungsverfahren und keine bloße Zustimmung des Bundestags. Erst das würde der Wesentlichkeitstheorie entsprechen, wonach grundlegende Regelungen zur Staatsorganisation durch das Parlament selbst bestimmt werden müssen. Außerdem wäre die Wehrgerechtigkeit nicht gesichert. Sie bezeichnet das Prinzip, Pflichten und Lasten durch die Wehrpflicht gleichmäßig auf die Bevölkerung zu verteilen. Tatsächlich zeigt der Blick in die Realität: Selbst bei einer aktiven Wehrpflicht würde wohl nur eine kleine Gruppe eingezogen. Denn die Kapazitäten in den Kasernen und in der Ausbildung sind stark begrenzt.
Auch Uffz Alisan betont, dass die Bundeswehr nicht jeden aufnehme: „Wir brauchen Menschen, die das auch wirklich wollen“. Dass die Bundeswehr wegen ökonomischer Vorteile und Sicherheit für manche junge Menschen attraktiv ist, kann Joschua verstehen. Der Schüler würde gerne später mit politischer Arbeit Geld verdienen. Aber die wirtschaftliche Lage beunruhige ihn – sowie viele in seinem Umfeld. Für ihn sei die Zukunft noch ein großes Fragezeichen.
