Deutschland diskutiert wieder über eine Wehrpflicht. In der Jugend regt sich Widerstand. Sind das die Anfänge einer neuen Welle der deutschen Friedensbewegung?
Eine Frau läuft durch die Stuttgarter Innenstadt. Sie wirkt aufgebracht, ihre Stimme zittert. „Ich kannte noch Männer, die im Krieg waren.“ Sie hält inne und schluckt. „Ich möchte auf keinen Fall, dass meinen Kindern so etwas passiert.” Am Schlossplatz in Stuttgart ist sie heute, um gegen Waffen und die Wehrpflicht zu demonstrieren. Aber sind die Kinder, um die sie sich sorgt, heute auch auf der Straße?
Wehrpflicht und Krieg schienen für junge Menschen sehr lange sehr weit weg. Die Krisen der Gen Z waren das Klima, das Rentensystem, nicht der Einzug in die Kaserne. Für Urs, Nils und Soraya stand eigentlich der alljährliche Blues vor dem Schuljahr auf dem Plan, bis dieser einer anderen Sorge wich. Denn Ende August beschloss das Regierungskabinett aus CDU, CSU und SPD das neue “Wehrdienst-Modernisierungsgesetz”. Der darin enthaltene Entwurf für den Wehrdienst setzt zunächst auf Freiwilligkeit, enthält aber auch die Möglichkeit einer Verpflichtung.
Die Freundesgruppe aus Freiburg hat keine Lust auf Bundeswehr und gründete das Bündnis “Schüler:innen gegen Wehrpflicht”. Für Soraya ist es einfach: Sie sei gegen Krieg und daher auch gegen die Wehrpflicht. „Ich finde es unfair, dass ich Menschen wehtun soll, die mir näher sind als die, die über diese Kriege entscheiden“, sagt die 18-Jährige. Urs ist pragmatischer: Immerhin sei ein Jahr Dienst auch ein Jahr Lebenszeit, „das man mit Reisen, mit Studieren, mit Dingen, die einen erfüllen, verbringen könnte“. Ein Wehrdienst könnte vielen diese Zeit nehmen. Nils sieht im Wehrdienst vor allem Gehorsam, Hierarchien und fragwürdige Aufnahmerituale, die als Abenteuer inklusive Kameradschaft getarnt seien.
Im Bundestagsaal können sie ihre Argumente nicht einbringen. Niemand hat die Jugendlichen gefragt, ob sie zur Bundeswehr wollen. Dass das Gesetz über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, ärgert Urs. Wie alle, die es betrifft, ist der 17-Jährige nicht wahlberechtigt. Keine Stimme bedeutet kein Mitspracherecht am Verhandlungstisch. Am ersten Schultag hängten die “Schüler:innen gegen Wehrpflicht” deshalb ein Banner an ihrem Freiburger Gymnasium auf. „Wir haben keine Mittel, um dagegen vorzugehen außer den Protest“, sagt Nils. „Also protestieren wir.“
Mit Bannern, Reels, Infostände und einer Demo Anfang November wollen sie auf einen Schulstreik hinarbeiten. Ihre Bündnispartner*innen für die Aktion im November hätten sie über die sozialen Medien gefunden: „Wir haben einfach ein paar Leute über Insta angeschrieben“, sagt Nils.
Fast zeitgleich sind aus einer Petition gegen die Wehrpflicht bundesweit Jugendbündnisse unter dem Motto “Nein zur Wehrpflicht” entstanden. Von Flensburg bis nach Tübingen laden die regionalen Gruppen zu Filmeabenden und Demos ein.
Auch Yannick Kiesel, Referent der “Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigter KriegsdienstgegnerInnen” (DFG-VK) bemerkt, dass der Zulauf junger Menschen in der Friedensbewegung wieder größer wird. Die meisten von ihnen sind bereits politisch aktiv – die breite Masse macht also noch nicht mit. Dabei hat die Jugend eine klare Meinung: Die diesjährige Jugendtrendstudie vom Institut für Generationenforschung ergab, dass 70 Prozent der 16- bis 29-Jährigen nicht bereit wären, für Deutschland zur Waffe greifen. Studienleiter und Generationeneforscher Rüdiger Maas erklärt das so: Während der Zivil- oder Wehrdienst für unsere Großväter und Väter noch ein Lebensabschnitt wie Schule und Haus bauen war, kommt die Vorstellung für unsere Generation ganz unerwartet und ohne Vorlaufzeit.
Kollektiv auf die Straße gebracht, hat das die Gen Z aber nicht. Nils stellt bei vielen seiner Mitschüler*innen zwar Ablehnung, aber keinen großen Aktionsdrang fest. Eine wirkliche Wehrpflicht sei noch nicht greifbar genug.
Die jungen Menschen an diesem Punkt mit der klassischen Friedensbewegung abzuholen, gestalte sich seit Jahren schwierig. „Die Bewegung ist ziemlich alt“, gibt Kiesel zu. Nach den hochpolitisierten Jahrzehnten der 60er bis 80er sei es still geworden um die Bewegung und heute mobilisiert und organisiert sich nun einmal anders. Infostände mit Flugblättern und Mitgliedschaften funktionieren für die heutige Jugend nicht, sagt Kiesel. Die Handschrift der Generation steht Aktionen wie der aus Freiburg regelrecht aufs Display geschrieben: Es wird repostet, ge-hashtagt, und geteilt.
Mit der Verlagerung von Aktivismus aufs Handy habe sich laut Generationenforscher Maas nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch die grundlegende Dynamik von jungen Bewegungen verändert. Ein Video geht viral, man hat Angst, etwas zu verpassen und macht mit. Die Strukturen sind unverbindlich – und am Ende zerfällt das Potenzial schneller als der Pudding auf der Gabel. Bei Black Lives Matter habe man feststellen können, wie hoch das Risiko sei, dass eine Bewegung sich verliere und allmählich ausklingen könne, meint auch Friedensaktivist Kiesel. Er wolle daher jungen Menschen Raum für ihre Themen geben und gleichzeitig versuchen, sie in feste Strukturen, wie sie die DFG-VK und andere Friedensorganisationen bieten, zu integrieren.
Jugendpresse Deutschland e.V. / Norea Rüegg
Eine Brücke hierfür könnte die Solidarität mit Palästina sein. Am Tag der deutschen Einheit, an dem es schon in den vergangenen Jahren Friedensdemonstrationen gab, laufen in Stuttgart viele junge Menschen im Palästina-Block mit und tragen Kufiyas – wie viele der älteren Aktivisten. Auch wenn viele der jungen Demonstrierenden nicht primär wegen der Wehrpflicht dort sind, werden sie die Reden hören, die Banner lesen, vielleicht mit dem ein oder anderen ins Gespräch kommen. Yannick Kiesel erhofft sich eine Sensibilisierung, „dadurch dass man weiterdenkt: Was richten deutsche Waffen in der Welt an, was hat das mit mir zu tun, und was würde eine Wehrpflicht bedeuten?“
Aktuell stecken alte und neue Friedensbewegung wohl noch in einer Kennenlernphase. Kiesel schätzt, dass das Engagement steigen wird, wenn die ersten Fragebögen der Bundeswehr Anfang Januar ankommen. Die Demo an diesem 3. Oktober neigt sich dem Ende, die Masse löst sich in Richtung Hauptbahnhof auf. Die nächsten Monate werden zeigen, ob all die Menschen bald wieder gemeinsam demonstrieren – oder gemeinsam gemustert werden.
