Gren­zen­loses Europa? Nur begrenzt.

Datum
09. Mai 2021
Autor*in
Helene Ruf
Redaktion
politikorange
Themen
#JPT21 #Leben
Foto5_Jugendpresse Deutschland_Helene.Ruf

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An der italie­nisch-fran­zö­si­schen Grenze nehmen Geflüch­tete gefähr­liche Wege über die Alpen auf sich, um nach Frank­reich und weiter nach Deutsch­land zu gelangen. Oft fängt sie die fran­zö­si­sche Grenz­po­lizei ab und schickt sie zurück nach Italien. Eine Repor­tage von Helene Ruf über die Situa­tion vor Ort.

Umgeben von Bergen, nahe der italie­nisch-fran­zö­si­schen Grenze, liegt Oulx. Die italie­ni­sche Klein­stadt ist die letzte Station für Geflüch­tete, bevor sie die Grenze passieren. Etwa 4.000 Geflüch­tete versu­chen hier jedes Jahr auf gefähr­li­chen Wegen die Alpen zu über­queren, um nach Frank­reich zu gelangen. Norma­ler­weise ist Oulx ein Skipa­ra­dies und zieht viele Tourist*innen an. Die Sonne scheint und der Himmel ist wolkenlos. Wenige Wanderer*innen nutzen heute das gute Wetter für einen Ausflug. Es ist Mai, doch die Berg­gipfel sind noch mit Schnee bedeckt. Einige arabisch spre­chende Menschen sitzen auf den Stühlen eines geschlos­senen Cafés. Ein kleines Mädchen, etwa fünf Jahre alt, versteckt sich unter dem Rock ihrer Mutter.

Endsta­tion Deutsch­land

Neben dem Bahnhof steht ein Container vom Italie­ni­schen Roten Kreuz, höchs­tens 15 Quadrat­meter groß. Darin sitzen etwa zehn Menschen auf dem Boden und unter­halten sich, trotz Maske. Eine Mischung aus Arabisch, Fran­zö­sisch, Italie­nisch und Englisch ist zu hören. Drei Männer stehen vor dem Container und rauchen. Einer davon ist Fari.

Der 21-Jährige kommt ursprüng­lich aus Afgha­ni­stan und ist über die Balkan­route nach Italien gekommen. Seit über einem Jahr ist Fari unter­wegs. In Grie­chen­land ist er in die EU einge­reist und müsste eigent­lich dort seinen Asyl­an­trag stellen. Doch Fari möchte unbe­dingt nach Deutsch­land und dort viel­leicht Inge­nieur werden. Lächelnd sagt er: Ich verstehe auch schon ein biss­chen Deutsch.“ Um Deutsch­land zu errei­chen, muss er aller­dings erst einmal über die Alpen.

Ich verstehe auch schon ein biss­chen Deutsch

Heute wagt er den dritten Versuch über die Grenze. Die letzten zwei Tage hat ihn die fran­zö­si­sche Grenz­po­lizei abge­fangen und nach Italien zurück­ge­schickt. Bis 19 Uhr bleiben wir hier bei dem Container. Dann nehmen wir den Bus und versu­chen es noch einmal“, erklärt er.

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In einem Container in Oulx warten Geflüchtete bis abends, ehe sie versuchen die Grenze zu überqueren. Foto: Jugenpresse Deutschland/ Helene Ruf

Auch der 19-Jährige Etienne aus Gambia möchte heute unbe­dingt die Grenze über­queren. Ich möchte nach England, ich habe dort einen Cousin“, erzählt er. Er hat die Bilder aus Calais gesehen, auf denen Menschen verzwei­felt versu­chen den Ärmel­kanal im Schlauch­boot zu über­queren. Doch abge­schreckt haben sie ihn nicht. Ich habe jetzt keine Angst mehr. Bis nach England wird es nicht mehr schwer“, sagt er. Dass Groß­bri­tan­nien 95 Prozent der gambi­schen Asyl­an­träge ablehnt, weiß Etienne, aber er möchte es dennoch versu­chen.

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Der 19-Jährige Etienne möchte in Großbritannien Fuß fassen. Foto: Jugendpresse Deutschland/ Helene Ruf

Im Dunkeln über die Alpen

Die blauen Lini­en­busse fahren direkt gegen­über vom Container ab. Eigent­lich sind sie für Skifahrer*innen gedacht, doch zurzeit sind Geflüch­tete die einzigen Gäste. Während zwei Wanderer mit festem Schuh­werk und Wander­ruck­sä­cken gerade aus den Bergen zurück zum Bahnhof stapfen, steigen neun Geflüch­tete mit wenigen Habse­lig­keiten in den Bus ein. Er bringt sie in den benach­barten Ort Clavière. Von dort aus sind es noch zwei Kilo­meter bis in die fran­zö­si­sche Klein­stadt Mont­genèvre. Eine vermeint­lich kurze Strecke, doch im Schnee in 2.000 Meter Höhe kann dieser Weg lebens­ge­fähr­lich sein.

Etwa fünf Geflüch­tete sind seit 2016 bei der Über­que­rung gestorben. Anderen Menschen sind Füße oder Hände erfroren. Trotzdem macht sich jeden Abend ein Dutzend Geflüch­tete auf in die Berge, um im Schutz der Dunkel­heit die Grenze zu über­queren. Oftmals ohne Erfolg. Das hindert sie aber nicht daran, es weiter zu versu­chen. Irgend­wann schaffen es die meisten Geflüch­teten dann doch nach Frank­reich.

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Nach einer langen Flucht sind viele Menschen sehr erschöpft. Foto: Jugendpresse Deutschland/ Helene Ruf

Von einer Notun­ter­kunft zur nächsten

Ende März wurde in Oulx ein ehemals von Aktivist*innen besetztes Haus geräumt, in dem geflüch­tete Menschen Zuflucht fanden. Jetzt über­nachten die meisten von ihnen in einem privat betrie­benen Rifugio“ in Oulx, einer früheren Pilger­her­berge. Wenn Menschen es schaffen, die Grenze zu über­queren, werden sie auf fran­zö­si­scher Seite eben­falls in einer Notun­ter­kunft unter­ge­bracht.

In Venti­mi­glia, einer italie­ni­schen Grenz­stadt am Mittel­meer, wurde im Juli 2020 ein vom Roten Kreuz betrie­benes Flücht­lings­camp geschlossen, das nach Italien zurück­ge­führte Geflüch­tete betreute. Grund dafür war die Corona-Pandemie. Axel, ein Frei­wil­liger der Orga­ni­sa­tion Kesha Niya“ erzählt: Wir kümmern uns um die Geflüch­teten, die von der fran­zö­si­schen Grenz­po­lizei zurück­ge­schickt werden und geben ihnen etwas zu essen. Manche Fami­lien müssen auf der Straße oder unter der Brücke schlafen.“ Die fran­zö­si­sche Grenz­po­lizei verstößt Human Rights Watch“ zufolge in Venti­mi­glia sogar gegen inter­na­tio­nales Recht: Sie verän­dert Geburts­daten unbe­glei­teter Minder­jäh­riger, um sie als Voll­jäh­rige“ nach Italien abzu­schieben. Unbe­glei­tete Minder­jäh­rige dürfen eigent­lich nicht abge­schoben werden.

Private Orga­ni­sa­tionen bieten Unter­stüt­zung an

Es kommt häufig zu Konflikten mit der Polizei. Axel erzählt, er wurde bereits mehr­mals von der italie­ni­schen Polizei ange­halten, als er zurück­ge­führte Geflüch­tete an der Grenze in Empfang genommen hat. Ihm wurde vorge­worfen, die Grenze von Frank­reich nach Italien ohne nega­tiven Corona-Test über­quert zu haben, obwohl er die Grenze seiner Meinung nach nicht über­schritten habe Die Grenz­po­lizei versucht uns Frei­wil­ligen Steine in den Weg zu legen, beson­ders seit Corona“, meint er. Auf fran­zö­si­scher Seite berichtet die Orga­ni­sa­tion tous migrants, dass Frei­wil­ligen bereits mehr­mals Bußgelder verhängt wurden, wegen Verstößen gegen die nächt­liche Ausgangs­sperre – obwohl sie über eine offi­zi­elle Ausnah­me­er­klä­rung verfügten.

Trotzdem wollen sie weiter­ma­chen, denn in erster Linie kümmern sich Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen um die Geflüch­teten. Ohne die Frei­wil­ligen auf beiden Seiten der Grenze wären die Geflüch­teten auf sich allein gestellt. Das ist ein allge­meines Phänomen in Europa. Auch die Seenot­ret­tung im Mittel­meer wird vor allem von privaten Orga­ni­sa­tionen wie SOS Médi­ter­ranée, Ärzte ohne Grenzen oder Seawatch geleistet. Die Flücht­lings­camps werden meist von Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen betrieben. Von staat­li­cher Seite kommt wenig Unter­stüt­zung.

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Ohne Freiwillige und Hilfsorganisationen wären die Geflüchteten hier aufgeschmissen. Foto: Jugendpresse Deutschland/ Helene Ruf

Gemein­same euro­päi­sche Stra­tegie fehlt

An menschen­un­wür­dige Bilder von der euro­päi­schen Außen­grenze haben sich viele von uns schon gewöhnt. Fast täglich errei­chen uns Nach­richten von Geflüch­teten in Seenot auf dem Mittel­meer. Auch die Bilder aus Moria haben sich in unser Gedächtnis einge­brannt. Doch dass sogar inner­halb Europas für tausende Menschen auf der Flucht Gefahren lauern, ist wenig bekannt. Während euro­päi­sche Staatsbürger*innen, zumin­dest vor Corona, unge­hin­dert euro­päi­sche Grenzen passieren konnten, bleiben Menschen auf der Flucht und ohne Pass nur gefähr­liche Wege über die Grenze.

Aufgrund der Dublin Rege­lung sind die Einrei­se­länder für Asyl­ver­fahren der Geflüch­teten zuständig. Das sind meis­tens Grie­chen­land, Italien oder Spanien. Diese Länder sind über­for­dert mit der Anzahl an gestellten Asyl­an­trägen. Menschen, die wie in Oulx in andere Länder weiter­reisen möchten, werden in die Eintritts­länder zurück­ge­führt, wenn bekannt wird, dass sie bereits in Grie­chen­land oder Italien regis­triert wurden. Das ist geltendes Recht, egal wie über­for­dert Einrei­se­länder wie Grie­chen­land sind. Der Groß­teil der Geflüch­teten möchte aber nicht in menschen­un­wür­digen Lagern in Italien oder Grie­chen­land bleiben und reist auf eigene Faust, über gefähr­liche Wege, Rich­tung Norden, wie die Menschen an der italie­nisch-fran­zö­si­schen Grenze.

Die Situa­tion an der fran­zö­sisch-italie­ni­schen Grenze zeigt, dass eine gemein­same euro­päi­sche Flücht­lings­po­litik fehlt. Die Leid­tra­genden sind die Geflüch­teten.


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