Wie ein soziales Jahr Leben und Gesellschaft verändern könnte.
Ein Blick nach Österreich
„Einmal ist ein Ehemaliger Grundwehrdiener bei uns eingebrochen, hat sich eine Waffe geschnappt – zuerst jemanden erschossen, dann sich selbst. Darüber findet man keine Zeitungsartikel – aber die Einschusslöcher sieht man immer noch.“ Alexander Nikolaus Pur, ehemaliger Wehrpflichtiger in Österreich, habe in seiner Zeit beim Militär Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Marschlieder – sogar Tod – erlebt. Insgesamt liefen da viele „wilde“ Gestalten und Meinungen durch die Gegend. Der Dienst als solches habe viel mit Hierarchie, Autorität und Waffen zu tun, so Alexander. Das ziehe einfach ein gewisses Klientel an.
„In der ersten Nacht hat sich ein junger Mann erschossen – im ersten Moment, als er alleine mit einer geladenen Waffe war.“ berichtet der 24-Jährige weiter.
Auch wenn Alexander das Bundesheer als „ziemlich beschissenen Verein“ empfindet, erkenne der Realist in ihm, dass eine Neukonzeption angesichts der aktuellen Lage notwendig sei. Er hofft, dass die Planung eines neuen Wehrdienstes in Deutschland besser gelinge.
Deutschlands Kurswechsel
Österreich entschied sich 2013 per Volksbefragung für die Beibehaltung der Wehrpflicht – mit der Möglichkeit alternativ einen Zivildienst zu leisten. Deutschland beschloss schon 2011 die Aussetzung der Pflicht. Seitdem ist alles freiwillig, FSJ, BFD, FÖJ – eben auch der Wehrdienst. Fast 15 Jahre wurde an dieser Entscheidung festgehalten, jetzt plant die Regierungskoalition eine Rückkehr.
„Ein Militärsystem zu unterhalten, ist sowieso fraglich aus meiner Sicht,“ sagt Alexander. „Wenn man dann auch noch Leute mehr oder weniger zum Dienst zwingen muss, ist es noch tragischer.“ Aber was wäre eine Alternative?
Viele Namen, keine Lösungen
In der aktuellen politischen Debatte kursieren viele Begrifflichkeiten, die dem österreichischen Konzept ähneln. Die CDU fordert nach einer schrittweisen Wiedereinführung der Wehrpflicht ein Gesellschaftsjahr. Auch Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) spricht in diesem Zusammenhang von einem „republikanischen Jahr“. Gemeint ist ein verpflichtendes Jahr, in dem junge Menschen nach der Schule in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Bereichen einen Dienst für die Gemeinschaft leisten sollen – etwa in Pflegeeinrichtungen oder Kitas. Ziel sei es, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und, so sieht es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, den sozialen Zusammenhalt zu stärken.
Wie so ein Dienst konkret aussehen kann, zeigt das Beispiel des Informatikstudenten Jonathan Gathmann, der selbst einen Bundesfreiwilligendienst (BFD) bei der Diakonie Deutschland absolviert hat. Nach seiner Erfahrung in einer Wohngruppe für Menschen mit hauptsächlich körperlichen Behinderungen glaubt der 19-Jährige, dass das Grundkonzept eines verpflichtenden sozialen Jahres vielen zusagen würde. Die Idee hänge laut Jonathan in der Luft, man müsse sie nur ergreifen – und brauche einen besseren Namen, der psychologisch nicht so abweisend klinge.
Ein Jahr für die Orientierung
Wenn nicht so sehr der gesellschaftliche Druck bestünde, direkt in die Karrierewelt einzusteigen, würden sich laut Jonathan mehr Menschen über ein soziales Jahr Gedanken machen. Man sei schließlich jung und unorientiert. Weiter fragt er sich, ob ein Jahr Pause von der eigenen Realität – und die Erfahrung einer anderen – nicht sogar eine Bereicherung sei.
Ganz überzeugend ist die Idee eines Zivildienstes für viele trotzdem nicht. Wie Alexander aus Österreich bestätigen kann, sei die Bezahlung, ob Wehr- oder Zivildienst, „ein absoluter Witz“. Da könne man gleich gar nichts zahlen.
Aljona A., 36, eine BFDlerin bei der Migrant*innenorganisation Club Dialog e.V., sieht das anders: „Der BFD ist nicht da, um Geld zu verdienen, ich bekomme mehr als Geld, ich bekomme neue Erfahrungen, ich lerne neue Menschen kennen.“
Zwischen Zwang und Privileg
Jonathan stimmt ihr zu. „Man muss sich auch damit beschäftigen, wie andere Menschen die Welt sehen und was andere Menschen für Probleme haben. Das ist eine wertvolle Erfahrung.“
Kritiker*innen sehen eine Dienstpflicht als einen massiven Angriff auf die individuelle Freiheit.
Doch Jonathan empfindet ein „gestohlenes“ Jahr eher als Privileg. Man dürfe anderen dabei helfen, ihre Meinung zu vertreten und zu äußern. So könne man sich auch selbst eine fundierte Meinung über die Gesellschaft bilden. Für Jonathan sei die Arbeit mit Menschen daher hochpolitisch.
Das Gefühl, etwas bewirken zu können
Während seines Dienstes in der Wohngruppe unterstützte Jonathan einen Bewohner mit körperlicher Behinderung dabei, seinen Traum zu verwirklichen, ein Buch zu schreiben. Weil der Mann selbst nicht schreiben konnte, diktierte er den Text, Jonathan schrieb mit . „Ich durfte ihm dabei helfen“, sagt er stolz.
Auch Aljona verspürt durch die Integration von Einwander*innen echte Teilhabe. „Ich fühle mich nützlich. Ich denke, das ist wichtig für viele Leute.“
Jonathan und Aljona glauben, dass ein Jahr für die Zivilgesellschaft sinnvoll sein könne. Mit dieser Auffassung sind sie nicht allein. So erinnert sich Felix Strasser, ein Redakteur beim Österreichischen Rundfunk (ORF) beispielsweise: „Es waren immer so kleine Sachen, an denen ich gemerkt habe, dass der Dienst Sinn macht. Es muss nicht immer das Große, Weltbewegende sein. Die kleinen Dinge sind oft die, auf die es ankommt.“
Ob sich die Idee des Zivildienstes auch der deutschen Debatte durchsetzen kann, wird sich zeigen – doch Stimmen aus der Praxis zeigen, dass sie mehr sein könnte, als nur ein politisches Konzept.
