Alter­na­tive zur Wehr­pflicht: Stimmen aus der Praxis

Datum
30. Oktober 2025
Autor*in
Sofie Sindelarova
Redaktion
politikorange
Themen
#wehrpflicht #demokratie
Ein Militärhelm liegt in einer Wüste, drumherum wachsen zwei kleine Blumen, die Sonne geht im Hintergrund unter

Beitragsfoto by Stockcake Wars Silent Witness Sofie

Stockcake

Wie ein soziales Jahr Leben und Gesell­schaft verän­dern könnte. 

Ein Blick nach Öster­reich

Einmal ist ein Ehema­liger Grund­wehr­diener bei uns einge­bro­chen, hat sich eine Waffe geschnappt – zuerst jemanden erschossen, dann sich selbst. Darüber findet man keine Zeitungs­ar­tikel – aber die Einschuss­lö­cher sieht man immer noch.“ Alex­ander Niko­laus Pur, ehema­liger Wehr­pflich­tiger in Öster­reich, habe in seiner Zeit beim Militär Rassismus, Frau­en­feind­lich­keit, Marsch­lieder – sogar Tod – erlebt. Insge­samt liefen da viele wilde“ Gestalten und Meinungen durch die Gegend. Der Dienst als solches habe viel mit Hier­ar­chie, Auto­rität und Waffen zu tun, so Alex­ander. Das ziehe einfach ein gewisses Klientel an.

In der ersten Nacht hat sich ein junger Mann erschossen – im ersten Moment, als er alleine mit einer gela­denen Waffe war.“ berichtet der 24-Jährige weiter.

Auch wenn Alex­ander das Bundes­heer als ziem­lich beschis­senen Verein“ empfindet, erkenne der Realist in ihm, dass eine Neukon­zep­tion ange­sichts der aktu­ellen Lage notwendig sei. Er hofft, dass die Planung eines neuen Wehr­dienstes in Deutsch­land besser gelinge.

Deutsch­lands Kurs­wechsel

Öster­reich entschied sich 2013 per Volks­be­fra­gung für die Beibe­hal­tung der Wehr­pflicht – mit der Möglich­keit alter­nativ einen Zivil­dienst zu leisten. Deutsch­land beschloss schon 2011 die Ausset­zung der Pflicht. Seitdem ist alles frei­willig, FSJ, BFD, FÖJ – eben auch der Wehr­dienst. Fast 15 Jahre wurde an dieser Entschei­dung fest­ge­halten, jetzt plant die Regie­rungs­ko­ali­tion eine Rück­kehr.

Ein Mili­tär­system zu unter­halten, ist sowieso frag­lich aus meiner Sicht,“ sagt Alex­ander. Wenn man dann auch noch Leute mehr oder weniger zum Dienst zwingen muss, ist es noch tragi­scher.“ Aber was wäre eine Alter­na­tive? 

Viele Namen, keine Lösungen

In der aktu­ellen poli­ti­schen Debatte kursieren viele Begriff­lich­keiten, die dem öster­rei­chi­schen Konzept ähneln. Die CDU fordert nach einer schritt­weisen Wieder­ein­füh­rung der Wehr­pflicht ein Gesell­schafts­jahr. Auch Cem Özdemir (Bündnis 90/​Die Grünen) spricht in diesem Zusam­men­hang von einem repu­bli­ka­ni­schen Jahr“. Gemeint ist ein verpflich­tendes Jahr, in dem junge Menschen nach der Schule in verschie­denen zivil­ge­sell­schaft­li­chen Berei­chen einen Dienst für die Gemein­schaft leisten sollen – etwa in Pfle­ge­ein­rich­tungen oder Kitas. Ziel sei es, dem Fach­kräf­te­mangel entge­gen­zu­wirken und, so sieht es Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­meier, den sozialen Zusam­men­halt zu stärken. 

Wie so ein Dienst konkret aussehen kann, zeigt das Beispiel des Infor­ma­tik­stu­denten Jona­than Gath­mann, der selbst einen Bundes­frei­wil­li­gen­dienst (BFD) bei der Diakonie Deutsch­land absol­viert hat. Nach seiner Erfah­rung in einer Wohn­gruppe für Menschen mit haupt­säch­lich körper­li­chen Behin­de­rungen glaubt der 19-Jährige, dass das Grund­kon­zept eines verpflich­tenden sozialen Jahres vielen zusagen würde. Die Idee hänge laut Jona­than in der Luft, man müsse sie nur ergreifen – und brauche einen besseren Namen, der psycho­lo­gisch nicht so abwei­send klinge.

Ein Jahr für die Orien­tie­rung

Wenn nicht so sehr der gesell­schaft­liche Druck bestünde, direkt in die Karrie­re­welt einzu­steigen, würden sich laut Jona­than mehr Menschen über ein soziales Jahr Gedanken machen. Man sei schließ­lich jung und unori­en­tiert. Weiter fragt er sich, ob ein Jahr Pause von der eigenen Realität – und die Erfah­rung einer anderen – nicht sogar eine Berei­che­rung sei.

Ganz über­zeu­gend ist die Idee eines Zivil­dienstes für viele trotzdem nicht. Wie Alex­ander aus Öster­reich bestä­tigen kann, sei die Bezah­lung, ob Wehr- oder Zivil­dienst, ein abso­luter Witz“. Da könne man gleich gar nichts zahlen.

Aljona A., 36, eine BFDlerin bei der Migrant*innenorganisation Club Dialog e.V., sieht das anders: Der BFD ist nicht da, um Geld zu verdienen, ich bekomme mehr als Geld, ich bekomme neue Erfah­rungen, ich lerne neue Menschen kennen.“

Zwischen Zwang und Privileg

Jona­than stimmt ihr zu. Man muss sich auch damit beschäf­tigen, wie andere Menschen die Welt sehen und was andere Menschen für Probleme haben. Das ist eine wert­volle Erfah­rung.“

Kritiker*innen sehen eine Dienst­pflicht als einen massiven Angriff auf die indi­vi­du­elle Frei­heit.

Doch Jona­than empfindet ein gestoh­lenes“ Jahr eher als Privileg. Man dürfe anderen dabei helfen, ihre Meinung zu vertreten und zu äußern. So könne man sich auch selbst eine fundierte Meinung über die Gesell­schaft bilden. Für Jona­than sei die Arbeit mit Menschen daher hoch­po­li­tisch. 

Das Gefühl, etwas bewirken zu können

Während seines Dienstes in der Wohn­gruppe unter­stützte Jona­than einen Bewohner mit körper­li­cher Behin­de­rung dabei, seinen Traum zu verwirk­li­chen, ein Buch zu schreiben. Weil der Mann selbst nicht schreiben konnte, diktierte er den Text, Jona­than schrieb mit . Ich durfte ihm dabei helfen“, sagt er stolz.

Auch Aljona verspürt durch die Inte­gra­tion von Einwander*innen echte Teil­habe. Ich fühle mich nütz­lich. Ich denke, das ist wichtig für viele Leute.“

Jona­than und Aljona glauben, dass ein Jahr für die Zivil­ge­sell­schaft sinn­voll sein könne. Mit dieser Auffas­sung sind sie nicht allein. So erin­nert sich Felix Strasser, ein Redak­teur beim Öster­rei­chi­schen Rund­funk (ORF) beispiels­weise: Es waren immer so kleine Sachen, an denen ich gemerkt habe, dass der Dienst Sinn macht. Es muss nicht immer das Große, Welt­be­we­gende sein. Die kleinen Dinge sind oft die, auf die es ankommt.“

Ob sich die Idee des Zivil­dienstes auch der deut­schen Debatte durch­setzen kann, wird sich zeigen – doch Stimmen aus der Praxis zeigen, dass sie mehr sein könnte, als nur ein poli­ti­sches Konzept.


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