80 Prozent für Deutsch­land

Datum
16. August 2017
Autor*in
Zita Hille
Redaktion
politikorange
Thema
#poBTW17
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Die Wahl­be­tei­li­gung der Deut­schen Bürger und Bürge­rinnen wird dieses Jahr wahr­schein­lich wieder unter 80 Prozent liegen. Das soll mit der Initia­tive 80-Prozent-für-Deutsch­land“ der Frank­furter Allge­meinen Zeitung geän­dert werden. Zita Hille im Gespräch mit Gun Hell­mich (Verlag) und Martin Benning­hoff (Redak­teur).

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Andreas Bourani, LeFloid, Palina Rojinski und Claus Kleber haben eine Gemein­sam­keit und sind dadurch in den letzten Wochen aufge­fallen. Sie stehen einzeln vor der Kamera, reden über die Bundes­tags­wahlen 2017 und stellen Wett­ein­sätze auf, was sie tun, wenn dieses Wahl­jahr 80 Prozent Wahl­be­tei­li­gung erreicht wird. Die sinkende Wahl­be­tei­li­gung ist ein großes Problem der letzten Jahr­zehnte. Die Initia­tive 80 Prozent für Deutsch­land“ der Frank­furter Allge­meinen Zeitung (FAZ) soll daran etwas ändern.

Frau Gun Hell­mich, Herr Martin Benning­hoff: Wer sind Sie und was machen Sie bei 80 Prozent für Deutsch­land“?

Gun Hell­mich (GH) : Ich bin seit sechs Jahren bei der FAZ, seitdem im Verlag für Bildungs­pro­jekte zuständig. So bin ich auch zur 80-Prozent-Kampagne gekommen. Schüler und Lehrer sind einge­laden, sich mit der Bundes­tags­wahl ausein­an­der­zu­setzen. Meine Kollegin Donika Lilova und ich betreuen die Kampagne und steuern die Zusam­men­ar­beit inner­halb und außer­halb der FAZ.

Martin Benning­hoff (MB) : Ich bin seit andert­halb Jahren im Hause und Redak­teur vom Dienst. Ich steuere die FAZ.net-Seite mit und sorge dabei auch dafür, dass wir Korre­spon­den­ten­texte haben, wenn im Ausland etwas Gravie­rendes passiert. Außerdem schreibe ich für die Poli­tik­re­dak­tion über innen­po­li­ti­sche Themen – natür­lich auch über die Bundes­tags­wahlen – und außen­po­li­tisch über Nord­korea.

Bei der Initia­tive habe ich für das Erst­wäh­ler­le­xikon auf 80​-prozent​-fuer​-deutsch​land​.de ein paar Texte beigesteuert. Das war manchmal gar nicht so leicht, weil wir sonst immer für den Durch­schnitts­leser der FAZ schreiben – und dieser meist ein wenig älter ist und eine etwas andere Sprache spricht und liest.

In den letzten 60 Jahren ist die Wahl­be­tei­li­gung von 91,1% (1976) auf 71,5% (2013, 2009: 70,8%) gesunken. Woran liegt das?

MB : Unter anderem an dem hohen Zufrie­den­heits­stand der meisten Leute. Früher gab es klarere poli­ti­sche Kanten. Wenn man zum Beispiel im Ruhr­ge­biet aufwuchs, hätte man die Person – über­spitzt gesagt – mit der Pistole dazu zwingen müssen, das Kreuz­chen bei der Union zu setzen. Heute ist das alles viel leichter und durch­läs­siger. Es gibt einen hohen Wohl­stand und weniger gesell­schafts­po­li­ti­sche Kontro­versen, wie beispiels­weise in der Ostpo­litik, bei der man sich poli­tisch total bekämpft hat. Auch die jungen Menschen scheinen nicht mehr so auf Anti“ gebürstet, sondern schwimmen im Strom. Das ist eine Entwick­lung, die seit Jahren anhält. Eben­falls könnte das Problem sein, dass Parteien Schwie­rig­keiten haben, sich vonein­ander abzu­grenzen. Aber im Vergleich zu anderen Ländern ist die Wahl­be­tei­li­gung bei uns ja noch relativ hoch.

Wie entstand die Initia­tive 80 Prozent für Deutsch­land“?

GH : Die Kampagne ist mit Unter­stüt­zung verschie­dener Bereiche entstanden. Das Ziel sollte sein, sich gezielt an Erst­wähler zu wenden und auch Schüler mit ins Boot zu nehmen. Wir haben schon länger ein großes Schul­portal www​.fazschule​.net“. Lehrer können sich dort infor­mieren und Unter­richts­in­halte in Anspruch nehmen. Für 80 Prozent für Deutsch­land“ haben sich über 250 Lehrer sich bundes­weit ange­meldet und nehmen an der Initia­tive teil. Wir haben bereits im April damit begonnen, 80 Prozent für Deutsch­land“ zu bewerben. Nun können die Schüler sich in verschie­dener Weise am Projekt betei­ligen. Zum Beispiel durch Gestal­tung von Wahl­pla­katen. Die besten werden wir mit Preisen ehren.

Wer arbeitet in der Initia­tive mit?

GH : Am Schü­ler­pro­jekt sind 250 Lehrer mit gut 7.500 Schü­lern betei­ligt. Zurzeit machen 27 Promi­nente und Influencer mit. YouTuber wie LeFloid sind auch dabei. So versu­chen wir, eine Verknüp­fung zwischen den Jugend­li­chen und der Wahl zu finden. Es ist für uns wichtig, Personen zu invol­vieren, die unserer Ziel­gruppe etwas bedeuten. Diese rufen dann zur Wahl mit einem Wett­ein­satz auf. Es wird natür­lich sehr span­nend, die Wett­ein­lö­sungen zu begut­achten, wenn wir die 80 Prozent tatsäch­lich errei­chen.

Inner­halb der FAZ kann man die Betei­ligten gar nicht richtig zählen. Es gibt verschie­dene Abtei­lungen, die uns helfen. Zum Beispiel gibt es ein Steue­rungs­team, dann aber auch redak­tio­nelle Unter­stüt­zung. Was uns freut ist der gute Zuspruch auf Social Media, woran natür­lich auch unsere Leser betei­ligt sind.

Warum haben Sie Erst­wähler als Ziel­gruppe bestimmt?

GH : Weil es beson­ders wichtig ist, früh anzu­setzen und das Thema Wahl, unser Recht und unseren Anteil an der Demo­kratie wahr­zu­nehmen. Die Wahl­be­tei­li­gung ist gesunken und wir wollen der jungen Gene­ra­tion die Wich­tig­keit, zur Wahl zu gehen und das Kreuz­chen zu machen, verdeut­li­chen.

Bei der Initia­tive halten beispiels­weise Youtube-Stars Schilder hoch mit 80 Prozent für Deutsch­land“, 80 Prozent Wahl­be­tei­li­gung. Durch diese Chal­lenges ihrer Idole sollen sich Erst­wähler moti­viert fühlen, auch ihre Stimme abzu­geben. Doch Kritiker behaupten, dass sich die Erst­wähler nicht die poli­ti­sche Seite ihrer Stars vorgau­keln lassen, weil sie sich sonst kaum poli­tisch äußern. Was sagen sie dazu?

MB : Die Initia­tive ist ein Türöffner für die Ziel­gruppe. Wenn wir jetzt einen Poli­tiker hinstellen würden, würde sich die Gene­ra­tion nicht ange­spro­chen fühlen. Die Anknüp­fungs­punkte braucht man zuerst und dann kommt die inhalt­liche nächste Stufe. Bei mir war das damals genauso. Ich war bei der Bundes­tags­wahl 1998 18 Jahre alt. Damals waren es auch Musiker und andere Promi­nente, die meine Aufmerk­sam­keit auf die Politik brachten und junge Poli­tiker halfen mir dabei, mich für Politik noch stärker als ohnehin schon zu begeis­tern.

Sind die 80 Prozent denn realis­tisch?

MB : Das ist das Ziel. Die Erst­wähler sind immer drunter, das ist auch nach­voll­ziehbar. Aber es ist zumin­dest ein Versuch, die Prozente anzu­heben. Es gibt Entwick­lungen, die bei der Sache auch helfen könnten. Zum Beispiel das Erstarken der Rechts­außen-Parteien, wir haben derzeit Entwick­lungen in Polen, in Ungarn oder auch in den USA, die vielen Angst machen. Dies könnte ein Grund sein, wählen zu gehen. Wir sehen das ja auch auf den Social Media, wie viele Leute disku­tieren. Die Chance, auf die 80 Prozent zu kommen, ist nicht sonder­lich groß…aber möglich! Ist halt sport­lich – aber umso moti­vie­render.

GH : Ich schätze mal, das Ergebnis liegt bei genau 80,01 Prozent. (lacht)

MB : Bei 79,9 würde ich mich ärgern.

GH : Dann runden wir auf. (lacht)

Seit vielen Jahren wählen Erst­wähler eher Rich­tung links. Wird die Welt so immer linker?

MB : Glaube ich nicht. Wir sehen derzeit ja Gegen­be­we­gungen, die durchaus auch junge Leute anziehen. In Deutsch­land haben wir die AfD, in anderen Ländern haben wir rechts­po­pu­lis­ti­sche Parteien, die immer mehr Zulauf bekommen.

Deswegen ist es wichtig, dass auch die Parteien der Mitte die junge Gene­ra­tion nicht außen vor lassen.

Die Wahl­for­schungs­seite Polit­ba­ro­meter“ des ZDF gibt derzeit folgende Wahl­pro­gnose: 40 Prozent CDU, 24 Prozent SPD, Grüne, Linke, FDP und AFD acht Prozent. (Stand: 21. Juli 2017) Doch 2013 erreichte die SPD 25,7 Prozent. Ist der Schulz-Hype“ zu früh gekommen?

MB: Der Schulz-Hype hat vor allem die SPD-Leute mobi­li­siert. Die waren plötz­lich total moti­viert und haben Schulz als Heils­bringer ange­sehen. Die SPD hat diese Bewe­gung sehr propa­giert. Sie hat aber auch das Problem, dass ihnen Themen wegge­nommen wurden. Zudem kommen noch die Abspal­tung der Links­partei und eine Kanz­lerin, die sehr geschickt auf der Klaviatur spielt und zumin­dest inhalt­lich auch bei der SPD hätte landen können. Bei der Ehe für alle hat sie auch nur dagegen gestimmt, um konser­va­tive Wähler ihrer Partei nicht zu verschre­cken. Schulz kann sich gut auf inter­na­tio­nalem Boden bewegen, aber ihm fehlt viel­leicht die Ausstrah­lung eines Emanuel Macron, der durch Frank­reich marschiert und in den Élysée-Palast einzieht.

Also wäre das auch Ihre Antwort auf meine nächste Frage: Angie oder Schulz – wer wird siegen?

MB : Ja, der Sieg Merkels ist, nach all dem was passiert, relativ wahr­schein­lich. Aber wir sind ja in einer Zeit, in der jeden Tag etwas Gravie­rendes passieren kann. Wenn man sich die Terror­an­schläge anschaut, hat man mit all dem nicht gerechnet. Das kann einen ja ganz schön aus dem Alltag reißen.

Ich selber wohne in Berlin. Der Anschlag in Berlin am Breit­scheid­platz war schlimm, hat aber, was die Wähler­stim­mung angeht, nicht so viel ausge­löst. Aber wenn jetzt noch etwas Gravie­ren­deres passieren würde, wer weiß, Merkel steht ja auf Grund ihrer Flücht­lings­po­litik 2015 bei manchen am Pranger und dann könnte es durchaus kippen. Aber dann ist es immer noch frag­lich, ob es Rich­tung SPD kippt.

Wie beein­flusst die momen­tane Situa­tion in der Türkei Deutsch­land und die kommenden Wahlen?

MB : Allen­falls hat das Einfluss auf die türkisch­stäm­migen Wähler, die hier wählen dürfen. Viele fühlen sich in die Pola­ri­sie­rung hinein­ge­trieben. Mein Nachbar in Berlin entpuppte sich plötz­lich als blühender Erdogan-Anhänger, der aber auch nur türki­sche Medien konsu­miert, wo eben auch alles derzeit sehr einseitig darge­stellt wird. Er ist deut­scher Staats­bürger und bislang klas­si­scher SPD-Wähler. Jetzt kann ich mir aber vorstellen, dass er even­tuell wegen Gabriel nicht mehr die SPD wählen wird. Aber insge­samt sind das ja nicht sehr viele, die somit auch keinen so großen Einfluss haben sollten.

Welche Rolle spielen Medien in dem Wahl­kampf?

MB : In manchen Kreisen haben Medien heut­zu­tage ein großes Glaub­wür­dig­keits­pro­blem, werden als Main­stream­m­e­dien“ darge­stellt. Letz­tens hatte ich ein langes Gespräch mit meinem Friseur, der mir dann erzählte, wo er seine ganzen Fakten herbe­kommt. Er meinte, Zeitungen wie die FAZ stellten alles nur sehr einseitig dar. Er kriti­siert Main­stream­m­e­dien“ und verdammt sie, ist aber sehr unkri­tisch gegen­über anderen Quellen, etwa Blogs oder YouTube. (Bitte hier ein Beispiel für den Infor­ma­ti­ons­bezug des Friseurs. Und was bedeutet das für den Wahl­kampf? Es wäre schade diese Frage heraus­zu­strei­chen. Gerade unter Medien. Danke)

Die FAZ ist ein liberal-konser­vativ ausge­rich­tetes Medium. Wie gehen Sie mit der Bericht­erstat­tung über die AFD um: Gab es Diskus­sionen, sie weniger oder kriti­scher zu präsen­tieren als andere Parteien?

MB : Wir haben dafür Autoren, die nah dran sind und mit Fair­ness an die Bericht­erstat­tung rangehen. Ich glaube, dass jeder Redak­teur gucken sollte, welche Rele­vanz die Partei hat: Je stärker diese ansteigt, muss man mehr berichten, aber man sollte nicht jede kleine Provo­ka­tion zum Anlass der Bericht­erstat­tung machen. Wenn das halbe Land darüber spricht, dann können wir und wollen uns dem auch nicht entziehen.

Geht die Demo­kratie dem Ende zu?

MB : Nein.

GH : Wir alle sagen mal nein. (lacht)

MB : Die Demo­kratie ist anstren­gend, weil man sich infor­mieren sollte. Aber man muss es nicht, man kann auch einfach so ein Kreuz­chen abge­geben. Ich kenne kein besseres System. Ich war schon ein paarmal in Nord­korea, dort sah ich den Gegenpol. Die Demo­kratie besteht ja nicht nur aus staat­li­cher Politik, sondern auch aus Infor­ma­ti­ons­frei­heit, NGOs, Ehrenamt und anderen Projekten und wenn man auch dort mitmacht, macht man genauso gut bei der Demo­kratie mit, wie wenn man sich in einer Partei betei­ligt. Auch wir im Jour­na­lismus müssen den Rest der Gesell­schaft abbilden und nicht nur die Parteien. Menschen, die Flücht­lingen helfen, machen nämlich genauso Politik wie solche, die sich gegen Wind­räder enga­gieren oder auf die Straße gehen.


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