Zu Besuch im Jüdi­schen Museum

Datum
08. September 2021
Autor*in
Lisa Mika
Redaktion
politikorange
Themen
#tsuzamen 2021 #Leben
Foto: Viviane Bandyk

Foto: Viviane Bandyk

Foto: Viviane Bandyk

Wie sieht jüdi­sches Leben in Deutsch­land aus? Lisa Mika fragt für poli­ti­ko­range im Jüdi­schen Museum West­falen nach. Auf der Suche nach einer Gegen­wart mit Aushand­lung von Vergan­gen­heit. Zwischen Klischee und Wider­spruch.

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Im Gespräch mit Thomas Ridder im Museumsgarten. Hier steht eine Installation: Straßennamen anderer Städte sind ausgeschildert. | Foto: Viviane Bandyk

Vom Bahnhof Dorsten ist es nicht weit bis zur Straße gegen­über vom Jüdi­schen Museum West­falen, die ein gepflegter Wasser­graben ziert. Und ein Poli­zei­wagen, in dem zwei Polizist*innen sitzen. Seit im Früh­jahr Rake­ten­an­griffe zwischen Israel und Paläs­tina die mediale Aufmerk­sam­keit auf sich ziehen und es in Deutsch­land zu anti­se­mi­ti­schen Ausschrei­tungen kommt, steht der Wagen wieder dort im vorderen Bereich. Eine Schutz­maß­nahme, die vor vielen jüdi­schen Einrich­tungen in Deutsch­land vorbeu­gend getroffen wird. Dass es die Jahre davor Ruhe vor dieser Maßnahme gab, erzählt Kurator und Histo­riker Thomas Ridder, der das Museum seit kurz vor seiner Öffnung vor knapp 30 Jahren begleitet.

Mit gefal­teten Händen sitzt er im Garten des Museums. Heute wird hier die dritte Dauer­aus­stel­lung mit dem Titel L‚Chaim! Auf das Leben! Jüdisch in West­falen“ gezeigt.

Thomas Ridder ist, wie auch die meisten Mitar­bei­tenden im Museum, selbst nicht jüdisch. Mit viel Zeit und Gelas­sen­heit erzählt er von der Geschichte des Museums und seiner Wahr­neh­mung, als Außen­ste­hender mit Kontakten nach innen, von der Entwick­lung jüdi­schen Lebens. Das Museum gehe auf die Initia­tive der Geschichts­werk­statt Dorsten unterm Haken­kreuz“ zurück. Ridder lacht etwas, als er erklärt, dass er den Schwer­punkt heute stärker auf die Gegen­wart legen würde, als damals, als das jüdi­sche Thema noch völlig neu war.

Wer ist hier verklemmt?

Lauter wird sein Tonfall, als er davon spricht, dass nicht-jüdi­sche Personen heute ein Problem damit haben, das Wort Jude‘ zu benutzen. Juden*Jüdinnen haben das Problem nicht, denn sie sind es ja“. Damit wird das deut­sche Verklemmt­sein im Bezug auf Juden*Jüdinnen kriti­siert. Jude‘ ist in vielen Köpfen ein Schimpf­wort. Weil jüdi­sches Leben mitt­ler­weile stärker in den Medien gezeigt wird, hat es sich in den letzten Jahren teil­weise verbes­sert“, erzählt Ridder. Doch auch heute noch ist für viele die einzige bekannte Rolle für Juden*Jüdinnen in Deutsch­land die Opfer­rolle. Auch das ist Teil der jüdi­schen Erfah­rung in einer deut­schen Gesell­schaft, die beim Judentum immer auch an den Holo­caust denkt. Dieser ist zwar Teil der jüdi­schen und deut­schen Geschichte, doch viele Jüdinnen und Juden finden, dass die Schoa nicht den Schwer­punkt bestimmen sollte, wenn es um leben­diges jüdi­sches Leben heute geht. Sie sind auch nicht alle Zeitzeug*innen oder haben fami­li­en­ge­schicht­liche Bezüge zur Schoa.

Bei dem Gedanken an eine Ausstel­lung kommen Bedenken auf. Jüdi­sches Leben gibt es hier und jetzt, in Gemeinden, Fami­lien, Vereinen und eben überall, wo sich Juden*Jüdinnen aufhalten. Kann das wirk­lich in einem Museum ausge­stellt werden? Welchen Beitrag kann eine Ausstel­lung leisten, ohne wieder Klischees zu eröffnen? Stärkt ein Museum nicht die Vorstel­lung davon, dass etwas ganz weit weg von einem selbst ist? Oder in der Geschichte liegt?

Die Ausstellung umfasst auch ungewöhnliche Elemente, wie diesen neunarmigen Chanukkaleuchter. | Foto: Viviane Bandyk

Die Ausstellung umfasst auch ungewöhnliche Elemente, wie diesen neunarmigen Chanukkaleuchter. | Foto: Jüdisches Museum Westfalen / Viviane Bandyk

Die Dauer­aus­stel­lung des Museums soll, um das zu vermeiden, den Schwer­punkt auf die leben­dige Darstel­lung jüdi­schen Lebens bis in die Gegen­wart legen: Wir sind kein Holo­caust­mu­seum und keine Gedenk­stätte. Viel­fach haben Menschen das im Kopf und können sich nicht auf die Fröh­lich­keit vom tatsäch­li­chen jüdi­schen Gemein­de­leben einlassen.“, sagt Ridder. Natür­lich spielt die Schoa eine Rolle in der jüdi­schen Geschichte, aber hier nimmt sie eben nicht den Schwer­punkt ein. So gibt es Raum für anderes Wissen, beispiels­weise über Essen, hebräi­sche Schreib­ma­schinen oder jüdi­sche Promis, wie die im Ruhr­ge­biet gebo­rene IT-Pionierin Stephanie Shirley. Eine Sonder­aus­stel­lung beschäf­tigt sich mit Prove­ni­enz­for­schung‘: Der Suche nach der Herkunft der Gegen­stände, um aufzu­klären, ob sie beispiels­weise zur NS-Zeit unrecht­mäßig entwendet wurden, bevor sie das Museum kaufte. Ziel­set­zung ist, diese an Besitzer*innen oder Nach­kommen zurück­zu­geben.

Gründe zum Feiern

Das Gemein­de­leben ist beson­ders seit Mitte der 90er Jahre aufge­blüht. Mit der Zuwan­de­rung von etwa 220.000 Juden*Jüdinnen aus der ehema­ligen Sowjet­union wurde es in den wach­senden Gemeinden wieder möglich, neben Beer­di­gungen auch das Leben zu Feiern: In Form von Jugend­gruppen, Hoch­zeiten, Bar Mizwa und Bat Mizwa, Seder­abenden oder Chanuk­ka­feiern im Gemein­de­saal. Die Migra­tion aus der ehema­ligen Sowjet­union zeigt beispiel­haft auf, dass jüdi­sche Erfah­rungen viel­fältig sind; durch Migra­tion aus verschie­densten Gebieten geprägt. Es gibt mehr als die eine jüdi­sche Erzäh­lung.

Die Orange im Jüdischen ist so frisch und politisch wie politikorange. | Foto: Viviane Bandyk

Die Orange im Jüdischen ist so frisch und politisch wie politikorange. | Foto: Jüdisches Museum Westfalen / Viviane Bandyk

Was bei jüdi­schen Festen tradi­tio­nell passiert, wird in der oberen Etage der Ausstel­lung in blauen Farb­tönen präsen­tiert. Eine kreis­för­mige Auslage bietet Infor­ma­tionen über die Feste, wie sie im Laufe des jüdi­schen Jahres gehalten werden. Es gibt Hörma­te­rial, Video­re­por­tagen, Info­texte und Dinge zum Anfassen, wie Koch­bü­cher oder Speisen aus Plastik, die am Seder­abend auf dem Seder­teller liegen können. Doch beson­ders an diesem Punkt ist nicht zu vergessen: Nicht jede*r Jude*Jüdin ist reli­giös oder feiert jüdi­sche Feste tradi­tio­nell. Der Anspruch, eine leben­dige Ausstel­lung zu gestalten, ist zu merken. Tradi­tio­nelle Feste, geschicht­liche Erzäh­lungen, schwarz-weiß Bilder und Schoa-geprägte-Biogra­fien sind trotzdem Teil der Ausstel­lung, so wie sie auch Teil jüdi­scher Erfah­rung sind. Das Museum ist ein Ort des Lernens über mögliche Verbin­dungen jüdi­scher Lebens­er­fah­rung. Oder über sich selbst. In der Ausstel­lung sind zwei ältere Männer, einer von ihnen trägt eine kurze Sport­hose und eine Marken­jacke. Er erzählt dem anderen in ange­regtem Ton von jiddi­schen Wörtern, an die er sich von seiner Mutter erin­nert.

Gründe zum Lernen

Das Museum ist also ein Lernort. Und doch steht dieser Strei­fen­wagen vor dem Museum. Warum ist er dort? Thomas Ridder schlägt eine andere Frage vor: Warum muss er dort stehen?“ Mit einem Hinweis auf die gesell­schaft­li­chen Entwick­lungen seit Corona beant­wortet er diese Frage selbst: Er steht dort nicht, weil wir oder die Polizei es toll finden, sondern weil es in der Gesell­schaft Kräfte gibt, die nach wie vor jüdi­sches Leben und jüdi­sche Einrich­tungen bedrohen.“ Damit sind die zuvor genannten Ausein­an­der­set­zungen um Israel und Paläs­tina gemeint, aber auch die Demons­tra­tionen, die unter dem Label Quer­denken‘ gegen die Corona-Maßnahmen statt­finden. Sie bringen immer wieder durch die Verbrei­tung anti­se­mi­ti­scher Verschwö­rungs­er­zäh­lungen große Menschen­mengen auf die Straße. Das hat inner­halb des letzten Jahres gezeigt, dass Anti­se­mi­tismus in der deut­schen Gesell­schaft weiterhin Anschluss findet. Für Juden*Jüdinnen ist Anti­se­mi­tismus dabei nichts Abstraktes, sondern eine Gewalt­er­fah­rung und Bedro­hungs­si­tua­tion. Das Problem liegt dabei bei den Nichtjuden*jüdinnen, die die absur­desten Erzäh­lungen über Juden*Jüdinnen glauben, um sich kompli­zierte Zusam­men­hänge zu erklären. Auch das ist Teil der örtli­chen jüdi­schen Erfah­rung. Aber eben nur ein Teil.

Zum Schluss…

Was lässt sich also lernen über den Besuch im Jüdi­schen Museum West­falen? Gedenk­stätten gibt es an anderen Orten, und es muss sie geben; doch eben auch den Frei­raum davon. Jüdi­sches Leben ist kein Aufruf zu Betrof­fen­heit und keine Gedenk­ver­an­stal­tung. Es ist lebendig, viel­fäl­tiger als oft gedacht, und nichts Mysti­sches: Man darf in der Ausstel­lung lachen, singen, laut sein“, so gibt uns Thomas Ridder die Auffor­de­rung höchst­per­sön­lich.

Dafür müssen nicht-jüdi­sche Personen ihre Denk­muster aufbre­chen, normal mit Juden*Jüdinnen spre­chen und sie nicht ausschließ­lich als Opfer oder schlimmer noch, als das Böse sehen. Denn dieses Umdenken ist nicht Problem der Juden*Jüdinnen. Und erst dann lässt sich Viel­falt von jüdi­schen Lebens­welten sehen.


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