Auf der Suche nach der eigenen Iden­tität

Datum
10. September 2021
Autor*in
Raphael Fröhlich
Redaktion
politikorange
Themen
#tsuzamen 2021 #Leben
Foto Gabriel Geis Interview

Foto Gabriel Geis Interview

Gabriel Geis

Gabriel Geis blickt im Inter­view mit poli­ti­ko­range-Redak­teur Raphael Fröh­lich auf die Atmo­sphäre der deut­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft zurück und erzählt, warum er sein gesamtes Leben umkrem­pelte.

poli­ti­ko­range: Können Sie sich kurz vorstellen?

Gabriel Geis: Ich bin 1950 in Amsterdam geboren. Meine Eltern sind dann nach einer Odyssee wegen des Dritten Reichs und des Zweiten Welt­kriegs im Jahr 1952 nach Deutsch­land zurück­ge­kehrt. In Düssel­dorf machte ich Abitur und zog nach Hamburg. Der poli­ti­sche Aufbruch meiner Gene­ra­tion und die inter­na­tio­nale Soli­da­rität wurden meine neue Iden­ti­fi­ka­tion als Alter­na­tive zum jüdi­schen Eltern­haus.

In welchen Berufen arbei­teten Sie?

Ich arbei­tete für sieben Jahre im Hamburger Hafen als Kaiar­beiter. Während dieser Zeit war ich immer poli­tisch aktiv und enga­gierte mich im Betriebsrat. Ich geriet dann in eine Art Sinn­krise und begann, die kommu­nis­ti­sche Rich­tung in Frage zu stellen. Nach und nach krem­pelte ich zum zweiten Mal mein Leben wieder um und aus dieser Verän­de­rung heraus fing ich an, Psycho­logie zu studieren. Meine Diplom­ar­beit verfasste ich über die Iden­tität nach 1945 gebo­rener Juden in Deutsch­land.

Gibt es Gefühle oder Erleb­nisse, die Ihnen aus Ihrer Kind­heit beson­ders in Erin­ne­rung sind?

Ja, da war das Erbe“ meines Vaters, der in Buchen­wald im Konzen­tra­ti­ons­lager war und dann auf den letzten Drücker nach Paläs­tina entkommen ist. Er gehörte zu den wenigen Juden, die nach dem Krieg nach Deutsch­land zurück wollten. Das war sehr ambi­va­lent, weil das, was er sich da vorge­stellt hatte – nachdem nun die Nazis weg waren und was man dort alles machen könnte – war letzt­end­lich gar nicht so.

Ich kann mich nicht daran erin­nern, dass mich in der Grund­schul­zeit jemand diskri­mi­nierte. Trotzdem herrschte eine Atmo­sphäre, in der man vorsichtig war. Wenn man vor die Haustür trat, konnte ja jeder in der Gene­ra­tion meiner Eltern ein Mörder sein, der zum Beispiel meine Tante umge­bracht hat, die in Ausch­witz getötet wurde. All das spielte im Hinter­grund mit und bestimmte auch meine Rolle in der Familie.

Was hat sich in Ihrer Jugend verän­dert?

Ich hatte relativ schnell das Gymna­sium gewech­selt, da die Atmo­sphäre nicht gut war. Ein Urer­lebnis für mich war die Beschäf­ti­gung mit der Junta in Grie­chen­land im Jahr 1967. Von der Geschichte war ich total nerv­lich und psychisch belastet. Ich hielt ein Referat darüber. Aus der Klasse kam über­haupt kein Inter­esse. Ich war sowas von isoliert. Das war nicht Anti­se­mi­tismus, aber totale Igno­ranz und fehlende Sensi­bi­lität.

Wenn Sie an Selbst­fin­dung in ihrer Jugend­zeit, aber auch an die Berufs­wahl denken: Welche Heraus­for­de­rungen spielten bei Ihnen eine Rolle?

Zur Familie und speziell zu meinem Vater hatte ich einer­seits ein enges Verhältnis. Er war sehr freund­schaft­lich, konnte sehr lustig sein. Auf der anderen Seite war es eine riesige Belas­tung für mich. Mein Vater ist jede Nacht schreiend aus Albträumen aufge­wacht. Meine Mutter und meine Schwester haben weiter­ge­schlafen – als kleines Kind habe ich meinen Vater dann begleitet.

Sind Ihnen solche Vorfälle in der Zeit öfter aufge­fallen?

Solche Vorfälle waren bei jüdi­schen Fami­lien in der Zeit normal, meist hatten diese sich dann in die jüdi­sche Gemeinde zurück­ge­zogen und sind unter sich geblieben. Meine Eltern waren da eine Ausnahme. Auch in Jugend­gruppen in jüdi­schen Gemeinden war ich nicht. Meine Freunde habe ich dann außer­halb von jüdi­schen Kreisen gesucht. Mehr und mehr habe ich mich von dem abge­kehrt, was meinen Eltern beson­ders wichtig war.

Hat sich Ihre Defi­ni­tion von Iden­tität über die Jahre verän­dert?

Das ging immer wieder auf und ab. Nach der erwähnten Sinn­krise, sortierte ich mich völlig neu und entdeckte auch mein Judentum wieder. Das hieß erstmal dort anzu­knüpfen, wo ich ausge­stiegen war – und ausge­stiegen bin ich, weil das alles mit dem Dritten Reich zu tun hatte.

Wie lief der Iden­ti­täts­fin­dungs­pro­zess dann weiter?

Ich habe ange­fangen, mir die Frage zu stellen: Was ist eigent­lich meine Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Judentum? Nicht nur im nega­tiven Sinne, sondern positiv. Und da habe ich Jahre gebraucht. (Seine Stimme bricht, die Emotionen kommen hoch.) Im Rahmen meines Psycho­logie-Studiums habe ich mich mit der Werte-Analyse beschäf­tigt, also mit den Werten, die für mich am wich­tigsten sind. Da sind zwei Werte heraus­ge­kommen: Auto­nomie und Zuge­hö­rig­keiten. Zum Beispiel Kampf­sport, Judentum mit meiner Defi­ni­tion, aber auch mit der jüdi­schen Gemeinde und Israel; als Vater, als Ehemann. Das ist mein persön­li­cher Mix, der über viele Jahre gewachsen ist und mit dem ich mich heute gut fühle.


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