Jung und jüdisch – So leben, wie es passt

Datum
08. September 2021
Autor*in
Viviane Bandyk
Redaktion
politikorange
Themen
#tsuzamen 2021 #Medien
Beitragsbild_Jüdisches_Gemeindeleben

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Immer noch sind stereo­type Bilder von ortho­doxen Juden mit Hut und Locken präsent. Doch wie sieht eigent­lich das jüdi­sche Gemein­de­leben von Jugend­li­chen und jungen Erwach­senen im Jahr 2021 aus? Eine Repor­tage von Viviane Bandyk.

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In den Zeiten von Social Distancing finden viele Veranstaltungen der Gemeinde Düsseldorf online statt. | Foto: Jüdische Gemeinde Düsseldorf

Jüdi­sches Leben in Deutsch­land exis­tiert – und das schon lange. Spätes­tens seit dem Fest­jahr 2021, in dem gefeiert wird, dass seit 1700 Jahren jüdi­sche Menschen in dem Gebiet des heutigen Deutsch­lands wohnen, sind in Deutsch­land lebende Jüdinnen und Juden wieder verstärkter im gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Fokus.

Nata­scha Tolstoj studiert Grund­schul­lehramt und ist Leiterin des Jugend­zen­trums der jüdi­schen Gemeinde Dort­mund. Die 21-Jährige ist seit 2016 im Jugend­zen­trum Emuna aktiv und 2019 Leiterin geworden. Gemeinsam mit ihrem Team entwirft sie den Jahres­plan, der Akti­vi­täten für die Kinder sowie Gemein­de­treffen beinhaltet.

Jeden Sonntag bietet die Gemeinde ein Programm für Kinder an. Dieses fand vor der Corona-Pandemie vor Ort statt, derzeit ist die Gemeinde auf Online-Veran­stal­tungen umge­stiegen. Anfangs haben wir fast jeden Tag etwas ange­boten, auch über Zoom. Wir haben geba­cken, Ketten gebas­telt.“ Neben den Akti­vi­täten können die Kinder sonn­tags auch am inhalt­li­chen Teil des Programms teil­nehmen. Peolot“ nennen sich diese Gespräche. Mit den Jüngeren wird danach gespielt, mit den Älteren manchmal stun­den­lang darüber philo­so­phiert.

Natascha Tolstoj

Natascha Tolstoj erzählt im Zoom-Interview von ihren Aufgaben als Leiterin des Jugendzentrums. Foto: Viviane Bandyk

Im Prinzip versu­chen wir im Jugend­zen­trum erns­tere, wich­tige Themen und Werte spie­le­risch rüber­zu­bringen“, sagt Tolstoj. Mit den Jugend­li­chen spricht sie über Themen wie Freund­schaft, gibt aber auch jüdi­schen Input. Das Lernen spielt eine wich­tige Rolle, gerade wenn die Eltern den Kindern bestimmte Inhalte nicht beibringen konnten. Dies ist teil­weise der Fall bei den Personen, die in den 1990er Jahren von der Sowjet­union nach Deutsch­land migrierten. Jüdi­sche Menschen konnten ihren Glauben in der Sowjet­union teil­weise nur schwer ausüben, sie sind zwar mit dem Wissen, jüdisch zu sein, aufge­wachsen, konnten dies aber nicht an ihre Kinder weiter­geben, erzählt Nata­scha Tolstoj.

Viele lernten den Glauben erst wieder in Gemeinden in Deutsch­land kennen

Seit 1990 kamen etwa 220.000 jüdi­sche Einwanderer*innen aus der ehema­ligen Sowjet­union nach Deutsch­land. Knapp die Hälfte von ihnen schloss sich jüdi­schen Gemeinden an. Auch die Gemeinde in Dort­mund ist seitdem stark gewachsen: von 350 Mitglie­dern vor 1991 auf mitt­ler­weile 3.000 Mitglieder. Manche lernten erst in den Gemein­de­struk­turen in Deutsch­land die Ausle­bung des jüdi­schen Glau­bens kennen. Dieses spie­le­ri­sche Lernen in den Jugend­zen­tren ist für Nata­scha Tolstoj und andere junge Jüdinnen und Juden ein wich­tiger Prozess, um sich mit dem Judentum zu iden­ti­fi­zieren.

Auch sie ist zu Hause nicht reli­giös aufge­wachsen, hat aber in der Gemeinde einen neuen Zugang zur Jüdisch­keit gefunden. Erst besuchte sie den jüdi­schen Kinder­garten in Dort­mund und kam in ihrer Schul­zeit erneut in Kontakt mit der Gemeinde, als ihre Mutter ihr vorschlug, dort am Reli­gi­ons­un­ter­richt teil­zu­nehmen. Beson­ders wichtig ist ihr heute der wöchent­liche Schabbat, an dem sie mit ihren Freund*innen essen geht und die beson­dere Atmo­sphäre des Tages genießt. Dazu gehört: Kerzen anzu­zünden, gemeinsam Zeit verbringen und sich eine Auszeit vom Alltag nehmen.

Auch Zeev Reichard hat eine wich­tige Posi­tion in seiner Gemeinde. Der 25-Jährige hat Online-Redak­tion in Köln studiert und arbeitet als Refe­rent für Kommu­ni­ka­tion und Öffent­lich­keits­ar­beit für die Gemeinde Düssel­dorf. Seit dem ersten coro­nabe­dingten Lock­down im Jahr 2020 kümmert er sich dort um die Digi­ta­li­sie­rung. Er bear­beitet Bilder, schreibt Texte, macht Fotos und betreut die Social-Media-Kanäle. Vor der Pandemie kamen die Gemein­de­mit­glieder zu uns“, erklärt er. In der Corona-Pandemie mussten wir uns fragen: Wie kommen wir zu den Leuten, wie nehmen wir sie weiterhin mit?“ Seit dem 1. April 2020 ist die Gemeinde auf Insta­gram aktiv, um dort die Gemein­de­mit­glieder auch in Zeiten räum­li­cher Distanz zu errei­chen. Dieser Online-Auftritt richtet sich vor allem an die jüngeren Mitglieder, wird aber auch von den älteren genutzt. Eben­falls nicht-jüdi­sche Personen können sich dort anhand kurzer Beiträge infor­mieren, zum Beispiel über die wöchent­li­chen Feste oder Feier­tage.

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Zeev Reichard ist Öffentlichkeitsreferent der jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Foto: Zeev Reichard

Manche Themen müssen stärker kontex­tua­li­siert werden als andere, wenn sie auch für ein nicht-jüdi­sches Publikum verständ­lich sein sollen, so beispiels­weise das umfang­reiche Pessach-Fest. Mit Pessach wird der Auszug der Jüdinnen und Juden aus Ägypten und die Befreiung aus der Zwangs­ar­beit gefeiert. Zu den Ritualen rund um das Fest gehört unter anderem der Früh­jahrs­putz, der auch unter Nicht­juden und ‑jüdinnen bekannt ist. Auf Insta­gram erklärt Zeev mit kurzen Erklär­vi­deos, was Pessach für die Gemein­schaft bedeutet und was am Pessach-Seder benö­tigt wird.

Zeev ist seit seiner Geburt Teil der jüdi­schen Gemeinde. Der 25-jährige lebt, wie die meisten jungen Erwach­senen, nicht orthodox. Es gibt Regeln und Gesetze, an die ich mich halte und andere, an die ich mich nicht halte“, sagt er. Vergan­genes Jahr schlug ihm der Gemein­de­di­rektor vor, nach seinem Studium den Job als Kommu­ni­ka­ti­ons­re­fe­rent anzu­nehmen. An seiner Arbeit schätzt er, dass er sich kreativ einbringen kann. Das ist das Gute hier: Du hast eine Idee und setzt sie um.“, erläu­tert Zeev. Er produ­ziert Koch­vi­deos mit Rabbiner*innen, Posts zu statt­fin­denden Feier­tagen, Gedenk­tagen und ganze Shows, in denen er über Jüdisch­keit spricht. Auch die Jewlym­piade“, die im August statt­findet, hat er ins Leben gerufen. Sie ist nach dem Prinzip der Jugend­zen­tren gestaltet: Mit Spiel und Spaß über Jüdisch­keit lernen.

Im Jugend­zen­trum in Düssel­dorf treffen junge Menschen ihre Freund*innen und genießen ihre Frei­zeit. Zeev betont, wie wichtig dieser offene Raum für junge Menschen ist, um sich mit dem Judentum verbunden zu fühlen. Der Ort ist meist ausschlag­ge­bend dafür, ob ein Kind sich später jüdisch fühlt oder fühlen möchte.“

Große Gemeinde mit ausge­bauter Infra­struktur

Die Gemeinde Düssel­dorf ist eine Einheits­ge­meinde, die alle Strö­mungen des Juden­tums will­kommen heißt. Zu ihr gehört der größte Kinder­garten der Stadt Düssel­dorf mit über 200 Kindern, eine Grund­schule, eine Reli­gi­ons­schule, ein Jugend­zen­trum und seit 2016 auch ein Gymna­sium.

Unab­hängig davon, auf welche Art und Weise und wie intensiv man den Glauben ausübt – man ist in der Gemeinde aner­kannt. Einen klas­si­schen Alltag gibt es nicht, statt­dessen erfüllen alle ihre eigene Rolle, von den Köch*innen bis hin zu den Rabbiner*innen und den Mitarbeiter*innen in den einzelnen Insti­tu­tionen. Die Arbeit in einer jüdi­schen Gemeinde unter­scheidet sich stark von der Arbeit in einem Unter­nehmen. Du versuchst, mit deiner Arbeit etwas Gutes für die Gemein­de­mit­glieder zu tun“, sagt Zeev.

Jüdi­sches Leben von jungen Leuten ist viel­fältig. Man kann nicht von ihnen als homo­gene Gruppe spre­chen, denn jede Person bestimmt selbst, wie sie ihren Glauben prak­ti­ziert und die Kultur auslebt. Für jede*n ist die jüdi­sche Iden­tität etwas Indi­vi­du­elles. Auch Zeev bestä­tigt das: Ich mache mir im Prinzip mein Judentum so, wie es mir persön­lich passt.“


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