Wie kann Jüdisch­sein so eine Provo­ka­tion sein?”

Datum
10. September 2021
Autor*in
Sophie Schmitt
Redaktion
politikorange
Themen
#tsuzamen 2021 #Gen Z
bild_interviewneu

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Anti­se­mi­ti­sche Vorfälle und Einstel­lungen sind in Deutsch­land präsent und das nicht nur an den scheinbar äußeren Rändern der Gesell­schaft. Juden*Jüdinnen werden in ihrem Alltag mit verschie­denen Formen von Anti­se­mi­tismus konfron­tiert. Sophie Schmitt hat mit einer jungen Berli­nerin über ihre persön­li­chen Erfah­rungen gespro­chen.

Kette mit Davidstern

Foto: Cottonbro / Pexels

Stella Haas* (Name von der Redak­tion geän­dert), ist 23 Jahre alt und kommt aus Berlin. Sie erzählt, dass sie seit ihrer Jugend Jüdinnen*Judenfeindlichkeit erlebt

Wann bist du das erste Mal mit Anti­se­mi­tismus in Berüh­rung gekommen?

Das erste Mal habe ich Anti­se­mi­tismus im Gymna­sium in Steglitz zu spüren bekommen. Anfangs wusste keiner, dass ich Jüdin bin. Meine Eltern wollten nicht, dass ich mich als solche zu erkennen gebe. Ihre Angst, dass man mich deswegen verbal oder physisch angreifen könnte, war einfach zu groß. Als ich dann 14,15 Jahre alt war, haben meine Eltern mir diese Entschei­dung selbst über­lassen. Ich sei ja alt genug. Ich habe dann ange­fangen, die David­stern­kette zu tragen. Und das war dann auch der Moment, in dem alles anfing.

Kannst du eine konkrete Situa­tion benennen?

In der Pause wurden oftmals stereo­type Sprüche gerufen, die sich Jüdinnen*Juden oft anhören müssen. Mir wurde mehr­fach von Mitschüler*innen unter­stellt, meine Familie sei reich oder gar einfluss­reich, da das ja angeb­lich alle Jüdinnen*Juden wären. Das trifft auf mich aber nicht zu: Ich komme aus einer russisch-stäm­migen Arbeiter*innenfamilie. Meine Familie ist weder wohl­ha­bend noch einfluss­reich. Was alles mit ein paar nervigen stereo­typen Sprü­chen anfing, verwan­delte sich bald in Belei­di­gungen: Zum Beispiel wurden mir juden*jüdinnenfeindliche Belei­di­gungen im Bezug auf Verga­sung und den Holo­caust hinter­her­ge­rufen. Was genau gesagt wurde, weiß ich nicht mehr. Das habe ich verdrängt.

Wie hast du dich in solchen Situa­tionen gefühlt?

Ich empfand es als geschmacklos, dass meine Mitschüler*innen meine Iden­tität plötz­lich negativ aufgrund meiner Reli­gion defi­niert haben. Meine Reli­gion spie­gelt ja nicht meinen Charakter wider. Trotz der Tatsache, dass mich die Art und Weise wie mit mir umge­gangen worden ist gestört hat, habe ich nie den Mund aufge­macht. Aus Über­for­de­rung mit der Lage habe ich einfach mitge­lacht. Damals habe ich mich noch nicht getraut, meine Meinung zu sagen und eigene Grenzen zu ziehen.

Hast du dich bezüg­lich des Anti­se­mi­tismus in deiner Klasse damals an einen Erwach­senen gewandt?

Ich hatte einmal mit meiner Ethik­leh­rerin darüber gespro­chen, wie wütend mich diese anti­se­mi­ti­schen Witze und Äuße­rungen machen. Sie hat mir ange­boten, mit der Klasse darüber zu spre­chen, ohne meinen Namen zu nennen, damit ich nicht direkt in die Schuss­linie meiner Mitschüler*innen gerate. Ich habe das abge­lehnt. Selbst wenn meine Lehrerin die Klasse nur indi­rekt auf deren anti­se­mi­ti­sche Aussagen ange­spro­chen hätte, hätte trotzdem jede*r erahnt, dass ich mich beschwert hatte. Sie hat sich dann haupt­säch­lich meine Gedanken zu dem Thema ange­hört und mir Tipps gegeben.

Welche Erfah­rungen hast du durch deine Schul­zeit gesam­melt?

Rück­bli­ckend waren die Bekannt­schaften, die ich mit Jüdinnen*Judenfeindlichkeit in der Schule gemacht hatte, der Auslöser dafür, dass ich mich heute mit jüdi­scher Kultur und Anti­se­mi­tismus ausein­an­der­setze. Das nega­tive Bild des Juden­tums, welches meine Mitschüler*innen hatten, löste jahre­lang Unver­ständnis und Zorn aus. Erst als ich Mitglied bei Meet a Jew wurde, habe ich ange­fangen, mich mit dem Judentum als Reli­gion und Kultur ausein­an­der­zu­setzen. Gleich­zeitig habe ich versucht, den Beweg­grund von Nichtjuden*jüdinnen für Anti­se­mi­tismus zu ergründen.

Was denkst du ist die Ursache dafür, dass es im Jahr 2021 über­haupt noch Juden*Jüdinnenfeindlichkeit gibt?

Fehlende Aufklä­rung spielt eine entschei­dende Rolle: An unserer Schule wurde im Geschichts­un­ter­richt Anti­se­mi­tismus als Rand­thema bespro­chen. Wir sind mehr auf den Ablauf des zweiten Welt­kriegs einge­gangen als auf einzelne Vorfälle in der Zeit der Juden*Jüdinnenverfolgung. Auch das Eltern­haus kann eine Ursache für das Entstehen von Anti­se­mi­tismus sein. Denn ich bin nicht der Auffas­sung, dass meine Mitschüler*innen aus Boshaf­tig­keit gehan­delt haben: Ich denke, dass sie zu Hause nie die Bedeu­tung von Anti­se­mi­tismus erklärt bekommen haben.

Was gilt für dich als juden*jüdinnenfeindlich?

Darunter fallen nicht nur Witze über den Holo­caust, auch die Stereo­ty­pi­sie­rung in Bezug auf das Aussehen oder den sozialen Status von Juden*Jüdinnen, ist ganz klar anti­se­mi­tisch. Ich glaube auch, dass Filme und Bücher darauf einen Einfluss haben und dass das auch einer der Gründe ist, weshalb Nichtjuden*jüdinnen dieses Bild von wohl­ha­benden, frommen Juden mit Kippa haben.

Wo werden Juden*Jüdinnen deiner Meinung nach noch falsch darge­stellt?

Bericht­erstat­tungen in den Medien sind auch oft einseitig. Beispiels­weise wenn es um die Politik Israels geht.[…] Juden*Jüdinnen werden selten nach ihrer Sicht­weise gefragt und oft als böse“ oder gewalt­be­reit“ darge­stellt. Aber das ist nicht immer der Fall.

Was denkst du löst solch eine Bericht­erstat­tung bei Nichtjuden*jüdinnen aus?

Vielen Nichtjuden*jüdinnen ist die Einsei­tig­keit bei Bericht­erstat­tung nicht bewusst. Das führt dazu, dass diese einen gene­ra­li­sierten Juden*jüdinnenhass entwi­ckeln. Deswegen werden Juden*Jüdinnen aus allen mögli­chen Ländern ständig diskri­mi­niert. Am schlimmsten sind die Pro-Pales­tine-Demos: In Berlin war es sogar so gefähr­lich, dass man als Jüdin*Jude in bestimmte Stadt­teile nicht mehr rein durfte. Da frage ich mich: Wie kann Jüdisch­sein so eine Provo­ka­tion sein?

Wie bist du während dieser Phase mit der Situa­tion umge­gangen?

Während der Pro-Pales­tine-Demons­tra­tionen habe ich versucht, mich nicht als Jüdin erkennbar zu geben. Die Angst, in irgend­einer Form atta­ckiert zu werden, war einfach zu groß. Aber ich hatte nicht nur während der Demos Angst vor Gewalt. Ich bin auch heute immer noch in Alarm­be­reit­schaft.

Was muss die Gesell­schaft deiner Meinung nach tun, um Anti­se­mi­tismus zukünftig zu verhin­dern?

Es ist wichtig, dass Kinder und Jugend­liche früh­zeitig über Anti­se­mi­tismus aufge­klärt werden: Bildungs­ein­rich­tungen sind der perfekte Ort dafür, da sich hier viel­fäl­tige Möglich­keiten bieten, das Thema in den Unter­richt zu inte­grieren. Es muss nicht nur im Geschichts­un­ter­richt darüber gespro­chen werden. Man kann aktu­ellen Juden*Jüdinnenhass auch in den Ethik­un­ter­richt oder in den Poli­tik­un­ter­richt inte­grieren. Wichtig ist, dass Jüdisch­sein in Büchern, Spiel­filmen, Dokus, aber auch in der Schule nicht stereo­ty­pi­siert wird. Jüdi­sches Leben muss viel­fäl­tiger darge­stellt werden und nicht so ultra-orthodox, damit wir weniger über unsere Reli­gion defi­niert werden, sondern über unsere Persön­lich­keit. Anti­se­mi­tismus kann nur durch Aufklä­rung und das Aufzeigen von Viel­falt im Judentum bekämpft werden!

Danke für das offene Gespräch, Stella!


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