Warum unsere Perspek­tive auf Sucht veraltet ist

Datum
10. September 2020
Autor*in
Jeannette Benstein
Redaktion
politikorange
Themen
#allaboutdrugs 2021 #Leben
Foto: Christopher Folz

Foto: Christopher Folz

Jugendpresse Deutschland /Christopher Folz

Wer von Drogen abhängig wird, ist selbst schuld – eine Sicht­weise, die in Deutsch­land viele teilen. poli­ti­ko­range-Repor­terin Jean­nette Benstein sieht dies als unzeit­gemäß und gefähr­lich an. Ein Kommentar.

Am Wochen­ende mit Freund*innen grillen und anstelle des Biers fällt die Entschei­dung ausnahms­weise auf eine Limo. Die Reak­tion: direkt versu­chen alle, dieje­nige Person* zum Trinken zu animieren. Greift diese aber täglich zur Flasche, heißt es: Wie konnte es nur soweit kommen?“ Wer in unserer Gesell­schaft von etwas abhängig ist, wird dafür häufig miss­bil­ligt und mit einem herab­las­senden Blick betrachtet – egal, ob es sich um Alkohol, Cannabis oder eine härtere‟ Droge handelt.

Sucht ist ein Symptom einer anderen Erkran­kung

Die Annahme, dass eine Sucht oder Abhän­gig­keit auf einem schwa­chen Charakter“ und fehlender Willens­stärke beruht, ist nicht nur falsch, sondern igno­rant und veraltet. Ein Bild, das aus einer ehema­ligen Perspek­tive der Kirche stammt und unser heutiges Verständnis von Sucht bis heute prägt. Dabei ist eine Substanz­ab­hän­gig­keit deut­lich komplexer. Sucht darf nicht als Krank­heit verstanden werden, sondern als Symptom einer bestehenden Erkran­kung. Hier liegen häufig Angst­stö­rungen, Depres­sionen und Persön­lich­keits­stö­rungen vor, die dann versucht werden, in Alkohol zu ertrinken oder mit anderen Drogen zu betäuben. Wenn man dieses Zusam­men­spiel aus gene­ti­schen, biolo­gi­schen und persön­li­chen Faktoren außer Acht lässt und die Schuld in der Person* sieht, ist man genau eines: igno­rant. Mit dieser Form von Schuld­zu­wei­sung lässt man Betrof­fene mit dem Problem allein. Was folgt, ist die Scham der Abhän­gigen*. Das Einge­ständnis einer Abhän­gig­keit ist dabei bereits eine ausrei­chende Bürde und eine Verteu­fe­lung durch die Gesell­schaft verschlim­mert diese nur weiter. Sucht bedeutet eben nicht nur das reine Verlangen nach der Substanz, sondern wird meist von psychi­schen Erkran­kungen begleitet. Und wenn sich Betrof­fene immer weiter aus dem gesell­schaft­li­chen Alltag zurück­ziehen, dann verschwinden sie nicht. Wir sehen sie nur nicht mehr.

Eine unver­hält­nis­mä­ßige Sank­tio­nie­rung

Dass der derzei­tige Umgang mit Such­ter­krankten* falsch ist, hat mitt­ler­weile auch die Drogen­be­auf­tragte der Bundes­re­gie­rung verstanden. In einer öffent­li­chen Ansprache zum Drogen- und Sucht­be­richt 2019 merkte Daniela Ludwig an, dass anstelle einer ideo­lo­gie­ba­sierten Debatte ein offener Dialog notwendig wäre, um mit dem Thema umzu­gehen. Wie dring­lich dieses Umdenken ist, verdeut­licht ein Blick nach Bayern. Dort setzt die Landes­re­gie­rung auf repres­sive Drogen­po­litik und unan­ge­messen harte Maßnahmen, der den Drogen­konsum einschränkt – zumin­dest bei einer ober­fläch­li­chen Betrach­tung. Während viele Bundes­länder einen Eigen­be­darf von 6 Milli­gramm als straf­frei zulassen und Berlin sogar bis zu 15 Milli­gramm erlaubt, sind in Bayern nur bei Erst­tä­tern bis zu 6 Milli­gramm zuge­lassen. Heroin und Kokain werden zudem schon bei geringen Mengen mit Gefäng­nis­strafen sank­tio­niert. Der Versuch auf legale Mittel zu wech­seln hat dabei verhee­rende Folgen: Abhän­gige* vermi­schen hier verschie­dene legal verschrie­bene Substanzen und subtra­hieren beispiel­weise durch Aufko­chen aus Fentanyl-Pflas­tern hoch­kon­zen­triertes Heroin. Hilfs­mög­lich­keiten wie Drogen­kon­sum­räume, die eine sichere Einnahme ermög­li­chen, gibt es in Bayern nicht. Statt­dessen kommt es häufig zu einem gestreckten Konsum in Kata­komben. Einem offenen Umgang wie ihn die Drogen­be­auf­tragte fordert, entspricht das nicht. Eine Über­dosis durch nicht­kon­trol­lier­bare Mengen wird dementspre­chend wahr­schein­li­cher. Dass die baye­ri­sche Politik dabei einen falschen Kurs gewählt hat, zeigen die hohen Zahlen von Drogen­toten* in München seit Jahren. An der Politik ändert sich dennoch nichts.

Zwischen Verharm­lo­sung und Ankreiden

Trotz Ludwigs schöner Worte für einen offenen Diskurs, findet ein grund­sätz­lich falscher Umgang mit Drogen statt. Erst im April dieses Jahres wurde Alkohol als offi­zi­elles Kulturgut der Deut­schen erklärt – von der Kultus­mi­nis­terin persön­lich. Andere Drogen werden dagegen stark verteu­felt. Das zeigt: In Deutsch­land herrscht eine auffällig gestörte Trink­kultur. Dafür muss man sich nur das Okto­ber­fest anschauen. Das Tages­ge­schäft profi­tiert von Blut­al­ko­hol­werten über zwei Promille und riskiert jedes Jahr zahl­reiche Alko­hol­ver­gif­tungen. Wenn eine Droge zu sehr verharm­lost wird, fehlt das Gefühl für einen gesunden Konsum. Ebenso ist bei harten“ Drogen eine offe­nere und ehrli­chere Präven­tion notwendig, um einen exzes­siven Konsum zu unter­binden und um Abhän­gigen verhält­nis­mä­ßige Hilfen zu bieten. Kenn dein Limit“ heißt es in Aufklä­rungs­kam­pa­gnen zu Partys mit Alkohol. Doch wie sollen junge Menschen* ihr Limit und einen kontrol­lierten Konsum kennen, wenn über die Droge nicht gespro­chen wird? Ein Umgang mit Sucht erfor­dert Empa­thie und Verständnis.


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