Anders als sie scheinen

Datum
07. September 2020
Autor*in
Katharina Osterhammer
Redaktion
politikorange
Themen
#allaboutdrugs 2021 #Leben
Beitragsbild_Katha

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Familie Lepke im Urlaub. I Foto: Katrin Lepke

Müdig­keit, Vergess­lich­keit, emotio­nale Ausbrüche: Für die meisten Menschen* typisch für einen schlechten Tag, für andere sind das lebens­lange Begleiter. Der Grund dafür: FASD, eine nahezu vermeid­bare Krank­heit. poli­ti­ko­range-Redak­teurin Katha­rina Oster­hammer sprach mit Betrof­fenen.

Drei Geschwister während des Fami­li­en­ur­laubs in Schleswig-Holstein: Das Foto erin­nert Familie Lepke an ihre Reise in den vergan­genen Sommer­fe­rien. Jim, der Junge mit dem oran­ge­far­benen T‑Shirt, erzählt von der Raps­ernte, bei der er geholfen hat. Auch Shannon, die Älteste, berichtet von einer schönen Zeit. Dass die Geschwister während­dessen jeden Tag Medi­ka­mente nehmen mussten, ist für sie Norma­lität. Nur so können sich die drei länger als ein paar Sekunden konzen­trieren“, erklärt ihre Pflege- und Adop­tiv­mutter Katrin Lepke. Die Kinder selbst sagen: Für uns wäre es ein Albtraum, wenn wir keine Medi­ka­mente mehr nehmen würden. Wir würden uns in unserem eigenen Verhalten nicht mehr wieder­erkennen – vor allem, weil wir dann sehr schnell wütend werden.“ Grund dafür: Ihre leib­li­chen Mütter* haben während der Schwan­ger­schaft Alkohol getrunken. Die gesund­heit­li­chen Folgen dieses Alko­hol­kon­sums werden unter dem Begriff Fetal Alcohol Spec­trum Disorder“ zusam­men­ge­fasst, kurz FASD. Schät­zungs­weise 1,6 Millionen Deut­sche* leben mit verschie­denen Symptomen dieser Krank­heit.

Der Schein kann trügen

FASD ist ein Sammel­be­griff für die unter­schied­li­chen Ausprä­gungen dieses Krank­heits­bildes. Manchen Betrof­fenen* sieht man ihre Behin­de­rung an, dann besitzen sie das Voll­bild von FASD. Dieses Voll­bild wird FAS genannt – Fetales Alkohol Syndrom. Ein kleiner Kopf, eine schmale Ober­lippe und eine flache Nasen­rinne prägen die Gesichts­züge dieser Menschen*. Oft sind ihre Körper kleiner und dünner als die von Altersgenoss*innen. Shannon und Jim sehen auf den ersten Blick wie gewöhn­liche Teen­ager* aus. Nur, wer genau hinsieht, erkennt in ihren Gesich­tern die typi­schen FASD-Merk­male. Dem kleinen Bruder der beiden ist das Voll­bild jedoch deut­lich anzu­sehen. Er lebt eben­falls als Pfle­ge­kind bei Katrin Lepke und ihrem Mann Mario. Am meisten leiden oft nicht die Betrof­fenen* mit Voll­bild unter der Krank­heit, sondern dieje­nigen, denen man ihre Behin­de­rung äußer­lich nicht ansieht. Schein und Sein klaffen bei Personen* mit FASD häufig extrem weit ausein­ander“, erklärt Katrin Lepke. Sie ist nicht nur Pflege- und Adop­tiv­mutter von drei Heran­wach­senden mit FASD, sondern auch stell­ver­tre­tende Vorsit­zende des Vereins FASD Deutsch­land e.V.“. Der Verein bietet eine Anlauf­stelle für Betrof­fene* und hat sich unter anderem ihrer Vermitt­lung an Ämter und spezia­li­sierte Praxen verschrieben. Lepke erklärt: Oft sind FASD-Betrof­fene* sehr sprach­ge­wandt.“ Dadurch würden sie nicht den Anschein geis­tiger Einschrän­kungen erwe­cken – ein Trug­schluss.

Auch wenn die Symptome von FASD vari­ieren, bestimmte Eigen­schaften einen alle Betrof­fenen*: Schwie­rig­keiten in der Impuls­kon­trolle, Einschrän­kungen der Exeku­tiv­funk­tion und beim Lernen aus Erfah­rung. Über­setzt bedeutet das: Viele Menschen* mit FASD werden schnell wütend und können ihre Emotionen nicht kontrol­lieren. Außerdem dauert es bei ihnen oft lange, bis sie Hand­lungs­muster verin­ner­licht haben. Bis Shannon Schleifen binden konnte, vergingen viele Monate, erzählt ihre Adop­tiv­mutter. Nachdem sie ein Paar Schuhe mit Klett­ver­schluss hatte, verlernte sie das mühsam antrai­nierte Schlei­fen­binden sofort und begann erneut von Null. Heute arbeitet Shannon als Stall­hel­ferin auf einem Pfer­dehof und berichtet von ähnli­chen Ereig­nissen. Es kann sein, dass ich eine Aufgabe an einem Tag ohne Probleme erle­digen kann und am nächsten Tag wieder Hilfe dabei brauche“, erklärt die 19-Jährige. Sie und ihr kleiner Bruder Jim haben sich inzwi­schen ange­wöhnt, Hilfe anzu­nehmen: Wenn ich zum Beispiel in der Schule etwas nicht verstanden habe, bitte ich Lehrer*innen und Freund*innen darum, es mir nochmal zu erklären“, erzählt Jim.

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Dr. Heike Hoff-Emden betrachtet FASD als "theoretisch zu 100 % vermeidbar". I Foto: Dr. Heike Hoff-Emden

Wie FASD entsteht

Er und Shannon sind mutig. Und sie haben den Willen etwas zu verän­dern: Wir wissen, wie schwierig es ist, mit FASD zu leben. Deswegen wünschen wir uns von allen schwan­geren Frauen*, dass sie keinen Alkohol trinken und nicht noch mehr Babys* mit unserer Behin­de­rung auf die Welt kommen.“ Das fordert auch Dr. Heike Hoff-Emden. Sie ist die Leitende Ärztin des Sozi­al­päd­ia­tri­schen Zentrums Leipzig und behan­delt seit fast 30 Jahren Menschen* mit FASD. Es ist die häufigste ange­bo­rene Behin­de­rung und sie ist theo­re­tisch zu 100 Prozent vermeidbar“, so die Medi­zi­nerin. Theo­re­tisch, unter anderem deswegen, weil viele Frauen* nicht von Anfang an um ihre Schwan­ger­schaft wissen. Die Alko­hol­menge, sowie der Zeit­punkt des Alko­hol­kon­sums während der Schwan­ger­schaft spielen dabei nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Hoff-Emden betont: Das Gehirn des Kindes* entwi­ckelt sich die komplette Schwan­ger­schaft über. Deswegen ist jeder Tag, an dem das Kind* keinen Alkohol bekommt, ein guter Tag.“ Warum der Alko­hol­konsum der werdenden Mütter* so dras­ti­sche Folgen für ihre Kinder* hat, hängt mit der Organ­ent­wick­lung der Babys* zusammen. Über die Plazenta gelangt der Alkohol in das Blut des Kindes*. Die Leber, die bei Erwach­senen* für den Alko­hol­abbau zuständig ist, ist bei Unge­bo­renen* noch nicht voll­ständig entwi­ckelt. Dadurch bleibt der Alkohol etwa drei Mal länger im Körper des Kindes* als im Körper der Mutter*. Umge­rechnet heißt das: Ein Glas Wein pro Schwan­ger­schaftstag würde bedeuten, dass das Baby* während der kompletten Schwan­ger­schaft Alkohol ausge­setzt ist“, erklärt Lepke.

Bessere Präven­tion als erster Schritt

Expert*innen wie Betrof­fene* sind sich einig: Der Umgang mit FASD muss sich ändern. Lepke fordert bessere Präven­ti­ons­ar­beit. Ein mögli­ches Mittel: Pola­ri­sie­rende Bebil­de­rung auf Alko­hol­fla­schen – wie sie bereits seit Jahren auf Ziga­ret­ten­schach­teln prangt. Sie soll darauf hinweisen, dass jeder Schluck Alkohol für immer Schäden am unge­bo­renen Kind* hinter­lassen kann. Hoff-Emden meint außerdem, es müsse mehr Expert*innen geben. Um dazu beizu­tragen, ist sie welt­weit vernetzt, hält Vorträge in Kanada und schreibt Bücher. FASD ist selbst unter medi­zi­ni­schen und pädago­gi­schen Fach­kräften* oft noch zu wenig bekannt“, sagt die Medi­zi­nerin. Mögliche Folgen: Wenig präven­tive Aufklä­rung, falsche Diagnosen und keine opti­male Behand­lung. Aller­dings tragen nicht nur Fach­kräfte*, sondern auch die Partner*innen der Schwan­geren Verant­wor­tung: Keinen Alkohol in der Schwan­ger­schaft zu trinken, sollte ein Life­style werden, den die Partner*innen unter­stützen, indem sie auch darauf verzichten“.

Mehr Akzep­tanz

Lepke sieht das größte Problem am Leben mit FASD in dem Umfeld der Betrof­fenen*. Selbst unter Lehr­kräften* begegnet der Pflege- und Adop­tiv­mutter häufig Unver­ständnis: Regel­mäßig wird uns Eltern* nicht geglaubt, dass die Kinder* eine ernst­zu­neh­mende Behin­de­rung haben, die sie einschränkt. Beispiels­weise, weil eine bestimmte Tätig­keit schon einmal geklappt hat oder man ihnen ja nichts ansieht.“ Auch Shannon wünscht sich neben einer besseren Präven­ti­ons­ar­beit mehr Verständnis für sie und andere Betrof­fene*: Oft denken Menschen*, dass ich etwas nicht tun will oder faul bin. Meis­tens kann ich es in dem Moment aber einfach nicht und habe wieder vergessen, wie es funk­tio­niert.“ Ihre leib­liche Mutter möchte sie nicht kennen­lernen. Jim muss noch darüber nach­denken. Er weiß noch nicht, ob er eines Tages Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen möchte. Was für ihn fest­steht: Mit 17 möchte er sich von Katrin Lepke und ihrem Mann adop­tieren lassen. Während Lepke von der Säug­lings­zeit ihrer Kinder erzählt, von Irland­reisen mit der ganzen Familie und dem vergan­genen Urlaub in Schleswig-Holstein, vermit­telt sie vor allem zwei Dinge: Dank­bar­keit und Respekt. Dank­bar­keit dafür, Shannon, Jim und ihren Jüngsten als Kinder haben zu dürfen. Respekt empfindet sie für die Entschei­dung der leib­li­chen Mütter*, ihre Kinder wegzu­geben, um ihnen in einer anderen Familie ein Leben zu ermög­li­chen. Wovon sie über­zeugt ist: Keine Mutter* trinkt wissent­lich und willent­lich während der Schwan­ger­schaft Alkohol, um ihr Kind* zu schä­digen. Oft haben die Mütter* selbst große Probleme oder Trau­mata und schaffen es einfach nicht, nichts zu trinken.“


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