Plat­ten­bau­be­wohner 2.0

Datum
31. Mai 2016
Autor*in
Juliane Kraus und Annika
Redaktion
politikorange
Thema
#JMWS16
Ehemalige Stasi-Zentrale (Foto: Mohamad Osman)

Ehemalige Stasi-Zentrale (Foto: Mohamad Osman)

Es war wie der Eintritt in eine andere Welt: Juliane Kraus und Annika Schulze besuchten Ende April 2016 das Flücht­lings­heim in der alten Stasi-Zentrale in Berlin-Lich­ten­berg mit dem Foto­grafen Mohamad Osman. Sie redeten mit den Geflüch­teten, die dort vorüber­ge­hend einen Zufluchtsort gefunden haben. Eine beson­dere Begeg­nung

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Spielende Kinder vor der Flüchtlingsunterkunft in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg (Foto: Mohamad Osman)

Plat­ten­bau­be­wohner 2.0

Eine neue Heimat? Wohl kaum. Der Plat­tenbau aus DDR-Zeiten baut sich vor uns auf, die Farbe gleicht dem wolken­ver­han­genen Himmel. Die Umge­bung lädt nicht zum Verweilen ein: Nur wenige Autos stehen auf dem großen Park­platz. Es gibt ein tristes Stasi-Museum, kaum Grün, keine Spiel­plätze. Und so wirkt es einsam, obschon die vielen Fenster andeuten, dass hier sehr viele Menschen leben. Insge­samt sind 1300 Geflüch­tete in dem Gebäude unter­ge­bracht, fast ausnahmslos Fami­lien. Eine trost­lose, hoff­nungs­lose Stim­mung liegt über dem Gebäu­de­kom­plex, die sich verstärkt, als wir hinein­gehen. In der Eingangs­halle spielen Kinder auf dem Flie­sen­boden, junge Erwach­sene sitzen gelang­weilt herum. Dort wartet bereits ein Mitar­beiter des Deut­schen Roten Kreuzes (DRK), der uns anschlie­ßend durchs Haus führt. Das DRK und Ehren­amt­liche über­nehmen derzeit die meisten Aufgaben und haben unter anderem dafür gesorgt, dass trotz begrenzter Zeit und Mittel eine Kran­ken­sta­tion im Keller einge­richtet wurde.

Skepsis

In jedem der Stock­werke, die wir auf unserem Weg nach oben passieren, erwartet uns eine eher desin­ter­es­siert wirkende Sicher­heits­kraft. Auf einem Gang liegen Müll­tüten, ein unan­ge­nehmer Geruch geht von ihnen aus. Aber dies scheint eine Ausnahme zu sein. Wir gehen in den fünften Stock, wo Kinder in den kahlen Gängen spielen. Fußball auf dem Stasi-Flur. Ein Junge zeigt uns stolz seine Inliner-Künste. Wir sehen uns einen kleinen Raum mit einem Tisch und Spiel­sa­chen an. Hier malen die Kinder und singen deut­sche Lieder, erklärt uns eine Mitar­bei­terin. Die meisten Kinder haben derzeit noch nicht die Möglich­keit, in die Schule zu gehen. Es fehlen Schul­plätze. Ihnen bleibt nur die Teil­nahme an diesem Programm. An diesem Tag findet kein Kurs statt, trotzdem kommen ein paar kleine Jungen sofort ange­laufen. Unser Besuch hat sich rasch herum­ge­spro­chen. Höflich reichen die Kinder uns die Hand, fragen nach unserem Namen und wie es uns geht – dafür reichen ihre Deutsch­kennt­nisse bereits aus. Sie lernen schnell, saugen Deutsch förm­lich auf“, sagt uns unser DRK-Begleiter. Anfangs sind sie schüch­tern, dann spielen wir zusammen mit ihren Spiel­sa­chen und sie zeigen uns die Bilder, die sie gemalt haben. Gerade Neuan­kömm­linge würden häufig dunkle Farben verwenden und viele Augen mit Tränen malen, erzählt die syri­sche Betreuerin, die sich bei der wöchent­li­chen Malstunde um die Kinder kümmert. Ein Bild zeigt Bomben, die auf Menschen nieder­fallen. Andere malen Schlauch­boote. Bei den Kindern, die schon länger da sind, würden die Motive wech­seln: viele Herzen und bunte Schmet­ter­linge. Ange­kommen?

Zunei­gung

Das Eis ist endgültig gebro­chen, als die Kinder mit unseren Kameras Fotos machen dürfen. Aufge­regt laufen sie herum und wollen sie gar nicht wieder hergeben. Obwohl sie während des Spie­lens lachen, werden sie in der nächste Sekunde wieder ernst. Bei uner­war­teten Berüh­rungen zucken einige erschro­cken zurück. Man merkt ihnen an, dass sie Unvor­stell­bares erlebt haben. Wir gehen in das nächste Stock­werk, wo gerade ein betreuter Kurs statt­findet. Mehrere Ehren­amt­liche kümmern sich um die Kinder, die in dem kleinen Raum sitzen. Sie schauen Kinder­fern­sehen oder malen Bilder. Unsere Anwe­sen­heit verur­sacht Aufre­gung. Die ganze Zeit wollen die Kinder hoch­ge­hoben werden und wollen uns kaum gehen lassen. Es ist, als würde eine Sehn­sucht erfüllt: Ihnen wird Aufmerk­sam­keit geschenkt.

Schock

Die Kinder folgen uns auf den Gang. Aus manchen Toiletten dringt ein uner­träg­li­cher Geruch. Die Böden seien häufig über­schwemmt. Nicht wegen Zerstö­rung, sondern Über­las­tung“, sagt unser Begleiter vom DRK. Die Abfluss­rohre des eins­tigen Büro­kom­plexes sind nicht für hunderte Bewohner konzi­piert. Ein Junge kommt uns barfuß entgegen und löchert den Mitar­beiter: Wann kann ich endlich zur Schule gehen? Mir ist so lang­weilig!“. Insge­samt würden 650 Kinder in dem Flücht­lings­heim leben, 480 seien eigent­lich schul­pflichtig. Aber nur für 50 war bis Mai ein Schul­platz gefunden worden und eine eigene Schule in der Unter­kunft schei­tere bisher an der Senats­bü­ro­kratie. Die Übrigen lang­weilen sich den ganzen Tag, besu­chen aber mindes­tens einmal in der Woche einen der ange­bo­tenen Kurse. Wir treffen den Vater des Jungen und dürfen einen Blick in das kleine Zimmer der Familie werfen. Die einzigen Einrich­tungs­ge­gen­stände sind sechs Betten, ein Kind schläft sogar auf dem Boden, nur auf einem Laken. Der Vater berichtet, dass er seit sechs Monaten mit seiner Familie in diesem Heim sei. Seine Kinder sollten schon längst zur Schule gehen, statt­dessen seien sie den ganzen Tag in der Einrich­tung. Er vermutet, dass sein jüngster Sohn kriegs­trau­ma­ti­siert ist: Bei jedem Türknallen schrecke er zusammen, würde einnässen. Hilfe erhalte er bisher jedoch keine. Wir reden auch mit einer Mutter, die ein blau unter­lau­fenes Auge hat. Was ist passiert? Sie behauptet, sie sei die Treppe hinun­ter­ge­fallen. Wir glauben ihr nicht. Durch die Über­las­tung des Heims könne Unter­stüt­zung für hilfs­be­dürf­tige Menschen nicht immer glei­cher­maßen gewähr­leistet werden, lautet die Erklä­rung des DRK-Mitar­bei­ters.

Wir fahren in den 13. Stock, wo ein Groß­teil der Zimmer leer steht. Sie seien nutzbar, doch gehörten den Betrei­bern des Heims noch nicht und die Vertrags­ver­hand­lungen gingen nur schlep­pend voran. Als wir zurück ins Erdge­schoss fahren, kommen uns Mitar­bei­tende entgegen, die zahl­reiche Büro-Dreh-Stühle nach oben verfrachten. Der DRK-Mitar­beiter erklärt: Im 9. Stock wollte der Senat am Folgetag Bera­tungs­büros für das Arbeitsamt eröffnen, mehr­spra­chig geführt. In den glei­chen und vergleichs­weise groß­zü­gigen Räumen, in denen einst der DDR-Spio­na­ge­chef Markus Wolf resi­dierte. Zum Verständnis führt er aus: Das Landesamt für Gesund­heit und Soziales habe ange­ordnet, dass die Senats- und Arbeits­amts­ver­treter und ‑vertre­te­rinnen nicht auf einfa­cheren Stühlen sitzen dürfen. Deswegen müssten jetzt alle Büro-Stühle von DRK-Mitar­bei­tenden nach oben getragen werden. Die Möbel-Schlep­penden stöhnen, wert­volle Arbeits­zeit werde verschwendet. Vieles laufe leider einfach absurd“.

Emotio­naler Abschied

Zum Schluss gehen wir in den Hinterhof: Fünf Container mit Duschen und nur ein Raum mit Wasch­ma­schinen für 1300 Menschen. Die Mütter der Kinder, die wir zuvor getroffen haben, waschen gerade ihre Klei­dung. Einige Mädchen vom Beginn unserer Tour laufen eupho­risch auf uns zu, als sie uns wieder­erkennen. Sie springen in unsere Arme, halten sich fest, küssen uns auf die Wange. Als wir gehen müssen, laufen sie mit uns vor die Tür. Sie klam­mern sich an uns, wollen uns nicht gehen lassen. Ein Mädchen fragt uns, wann wir wieder kommen. Bald“, antworten wir. Wir müssen die Kinder wieder zurück ins Gebäude lotsen. Sie stehen an der Glastür, klopfen und winken. Wir drehen uns um und lassen sie in ihrer eigenen, abge­schot­teten Welt zurück. Eine Begeg­nung, die uns nicht mehr loslässt.


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