Bildung als Schlüssel

Datum
10. Mai 2021
Autor*in
Klaudia Lagozinski
Redaktion
politikorange
Themen
#JPT21 #Leben
JPT21_Klaudia_Beitragsbild

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Sebahat Kand­emir enga­giert sich in der Schil­leria in Neukölln, wo sie als Jugend­liche selbst Empower­ment erfuhr. Mit poli­ti­ko­range-Redak­teurin Klaudia Lago­zinski spricht sie über Chan­cen­gleich­heit. 

Sebahat Kand­emir weiß, wie wichtig es ist, Schüler*innen aus Fami­lien mit Migra­ti­ons­ge­schichte und bildungs­fernen Haus­halten zu unter­stützen. Vor allem, wenn sich die Lebens­rea­lität der Eltern­ge­nera­tion stark von der ihrer Kinder unter­scheidet. Die 21-jährige studiert Recht und Politk an der Euro­pa­uni­ver­sität Frank­furt Oder und arbeitet als studen­ti­sche Hilfs­kraft im Bundestag. Außerdem unter­stützt sie als Ehren­amt­liche der Schil­leria, einem Jungen­d­treff­punkt in Berlin-Neukölln, Mädchen mit Migra­ti­ons­ge­schichte und aus bildungs­fernen Fami­lien auf ihrem Weg zwischen Schule und Erwach­sen­werden.

poli­ti­ko­range: Sebahat, am 7. Mai 2021 sprachst du in der AG Unsere Chancen, unsere Zukunft“ auf den Jugend­Po­li­tik­Tagen 2021 über deinen bishe­rigen Werde­gang. Wie bist du aufge­wachsen und wie hat dein sozio­kul­tu­relles Umfeld deinen Weg beein­flusst?

Sebahat Kademir: Ich bin mit meiner Mutter – sie kam in den 1960er-Jahren als Arbei­terin aus der Türkei nach Deutsch­land – und meinen zwei älteren Geschwis­tern groß geworden. In der Grund­schule war alles okay, die Lehrer*innen haben uns moti­viert. Wir hatten gute Noten. Für uns stand früh fest, dass wir studieren wollen. Wir wollten auf jeden Fall etwas Großes machen, Ärztin, Anwältin. Das waren damals die einzigen Berufe, die man kannte.

Wie ging es dann weiter?

In meiner Ober­schule in Neukölln hatten fast alle eine Migra­ti­ons­ge­schichte. Wenn ich mich Recht erin­nere, haben außerdem die meisten Eltern dieser Schüler*innen soziale Leis­tungen bezogen. Unter­ein­ander wurde keiner wegen diesen Sachen gemobbt.

Die Bildungs­chan­cen­un­gleich­heit ist von den Lehrern ausge­gangen. Damals wurden wir in Schub­laden gesteckt. Wir haben diese dann auch ausge­füllt. Wenn du erst mal erkennst, dass du dich nicht verbes­sern kannst, machst du auch genau das, was die Lehrer von dir erwarten.

Du wirst mit diesem Bild gefüt­tert: Dass wir es nicht schaffen können, dass unser Deutsch beson­ders schlecht ist. Wir alle haben wegen solcher Kritik heut­zu­tage immer noch das Gefühl, uns nicht richtig ausdrü­cken zu können. Mir ist erst in der Uni aufge­fallen, dass Leute, die keine Migra­ti­ons­ge­schichte haben, auch Gram­ma­tik­fehler machen.

Wenn du Lehrer*innen einen Rat geben könn­test, welcher wäre es?

Man kann bestimmt als Lehrer*in nicht alle Kinder objektiv betrachten, aber es zumin­dest anstreben. Wenn man Schüler*innen sagt, sie seien nicht gut genug, werden sie niemals in der Lage sein, ihre Best­leis­tung zu geben. Einmal habe ich von einer Lehrerin gehört, die die Namen ihrer Schüler*innen beim Korri­gieren von Klas­sen­ar­beiten abklebt, so etwas geht in die rich­tige Rich­tung.

Wann und wie hast du gemerkt, dass du anders aufge­wachsen bist als viele andere Kinder und Jugend­liche, die in Deutsch­land auf ein Gymna­sium gehen?

Ich habe vor meinem jetzigen Studium ein halbes Jahr Kultur­wis­sen­schaften studiert. Dort merkte ich, dass ich die ersten Wochen Angst hatte, zu spre­chen. Ich dachte, dass ich schlecht Deutsch spreche. Am Anfang habe ich versucht, mich zu verstellen. Später habe ich das abge­legt, weil mir aufge­fallen ist, dass die dama­ligen Lehrer*innen uns eben diese Angst gemacht haben. Während der Uni wurde ich selbst­be­wusster.

Woher kam für dich und deine Geschwister so früh der Wunsch, zu studieren?

Ich weiß gar nicht, woher genau. Es war nicht so, dass ich in meinem direkten Umfeld gesehen habe, dass Leute studieren. Man wusste aber, dass das viel bedeutet. Meine Mutter ist als Arbei­terin aus der Türkei nach Deutsch­land gekommen. Am Anfang dachte sie, dass sie zurück­gehen wird. Das ist der Grund, wieso sie nie Deutsch gelernt hat. Die Inte­gra­tion ist geschei­tert, weil nicht gewollt war, dass türki­sche Gastarbeiter*innen bleiben. Deswegen hatte sie auch keinen Abschluss. Dadurch wussten wir als Kinder eben, wie es ist, wenn man keinen Abschluss hat und dachten: Okay, dann müssen wir studieren.

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Sebahat Kandemir setzt sich als Ehrenamtliche der Schilleria für Chancengleichheit ein und studiert Recht und Politik in Frankfurt (Oder). Foto: privat

In der AG hast du erzählt, dass du früher Kündi­gungs­schreiben für deine Mutter ins Deut­sche über­setzen muss­test. Was brau­chen Kinder, Jugend­liche und Studie­rende aus Fami­lien mit Migra­ti­ons­ge­schichte und aus bildungs­fernen Fami­lien?

Die Hilfe muss vom Staat geleistet werden. Dolmetscher*innen gibt es in Berlin einige. Es gibt Stellen, die das ehren­amt­lich anbieten. Aber damals wusste ich das nicht, das war das Problem. Wir haben doch schwarze Bretter in der Schule. Wieso hat damals keiner dafür Werbung gemacht?

Welche Art von Unter­stüt­zung bot dir der Mädchen­treff­punkt Schil­leria in Berlin-Neukölln in deiner Jugend?

Ich bin dort mit drei­zehn, vier­zehn Jahren hin. Erstmal war es gut, dort einen Raum zum Chillen zu haben. Man hatte kein Geld, wollte aber auch nicht auf der Straße hocken und die Wand anstarren. In der Schil­leria waren auch Betreuer*innen, die poli­ti­sche Arbeit machen und bei den Haus­auf­gaben helfen. Dort gibt es Drucker, PCs. Die Betreuer*innen waren inter­es­siert, haben nach­ge­fragt, wie es in der Schule läuft. Und dann hat man sich bei denen ausge­kotzt. Es war nicht so, wie Zuhause, wo gesagt wurde: Du musst immer auf deine Lehrer hören.

Als junge Erwach­sene hast du selbst beschlossen, dich als Betreuerin in der Schil­leria zu enga­gieren. Wie kann man sich deine Arbeit vor der Corona-Pandemie vorstellen?

Ich war meis­tens sams­tags da und habe mich an die Mädels ange­passt. Wenn sie Haus­auf­gaben machen wollten, dann saß ich mit ihnen daran. Wenn sie nach­dachten, die Schule abzu­bre­chen, habe ich mir zusammen mit den anderen Betreue­rinnen die Geschichten ange­hört und Stra­te­gien für die Mädels entwi­ckelt: nach Alter­na­tiven gesucht, Bewer­bungen geschrieben. Außerdem geholfen, interne Konflikte zu lösen, zwischen Freun­dinnen, mit Lehrern. Da haben wir auch einfach zuge­hört.

Wenn Gelder da waren, haben wir auch die Mädels gefragt, worauf sie Lust haben. Ob es Eislaufen war oder sie ins Kino gehen wollten, das haben sie selbst entschieden.

Wie hat sich die Schil­leria aus deiner Sicht während der Pandemie verän­dert?

Die Mädels können nur noch mit Anmel­dung zur Notbe­treuung kommen. Auch haben wir uns Alter­na­tiven einfallen lassen: Die Mitar­bei­te­rinnen stellen kleine Päck­chen zusammen, beispiels­weise mit Back­pa­pier, Zutaten und einem Rezept, die die Mädels dann abholen und Zuhause machen können.

Reflek­tie­rend als junges Mädchen, das erst selbst den Jugend­treff besuchte und dann dort als Ehren­amt­liche arbeitet: Welche Rolle spielt Empower­ment-Arbeit für dich?

Eine ehema­lige Mitar­bei­terin hat mich damals gestärkt. Dadurch, dass ich bei mir gesehen habe, was es bedeutet, als ich dann doch nicht die Schule abge­bro­chen habe, ist mir bewusst geworden: Das ist viel wert. Das will ich weiter­geben.

Wenn du niemanden hast, bei dem du sagst So will ich sein‘, brauchst du jemanden, der dir beibringt, dein eigenes Vorbild zu sein. Es ist einfa­cher, wenn du ein Ziel vor Augen hast. Dann weißt du: Egal, wie steil der Weg sein wird, dass du diesen Weg gehen kannst, trotz der Steine, die dir in den Weg gelegt werden.

Gibt es rück­bli­ckend auf deine Jugend Dinge, die du gerne getan hättest, aber die du aufgrund der Struk­turen, in denen du lebtest, nicht machen konn­test?

Bildung ist der Schlüssel zu allem. Früher habe ich das nicht verstanden. Nach dem Abitur hätte ich trotzdem gerne ein Jahr Pause gemacht. Aber ich dachte, dass ich es mir nicht leisten kann.

Deswegen habe ich mich direkt imma­tri­ku­liert. Mitt­ler­weile weiß ich, dass es immer Alter­na­tiven gibt.


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