Keiner kann heute behaupten, dass es nicht längst wieder Struk­turen wie den NSU gibt.“

Datum
29. März 2018
Autor*in
Yannic Walther
Redaktion
politikorange
Thema
#IWgR 2018
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Im Rahmen der Podi­ums­dis­kus­sion Wo steht unsere Repu­blik?“ hat Bundes­tags­vi­ze­prä­si­dentin und Linken-Abge­ord­nete Petra Pau mit Yannic Walther über Rassismus, den NSU und Iden­tität gespro­chen.

Interview Petra Pau_Foto: Gesicht zeigen!

Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau bei der Podiumsdiskussion „Wo steht unsere Republik?" / Bild: Gesicht Zeigen! e.V.

Wo steht denn unsere Repu­blik heute?

Wir sind an einem Punkt ange­langt, an dem Gewalt zur Lösung von poli­ti­schen Problemen von breiten Schichten der Gesell­schaft akzep­tiert wird. Das ist aber keine urplötz­liche Verän­de­rung. In ganz Europa haben wir es seit Jahren mit der Zunahme von grup­pen­be­zo­gener Menschen­feind­lich­keit zu tun. Diese findet ihren Ausdruck in den erstarkten rechts­po­pu­lis­ti­schen bis mili­tanten rechten Orga­ni­sa­tionen. Mit der AfD hat der Rechts­po­pu­lismus seinen partei­po­li­ti­schen Ausdruck nun auch im Deut­schen Bundestag gefunden. Damit geht eine Gering­schät­zung unserer demo­kra­ti­schen Werte einher, welche unsere Demo­kratie mitt­ler­weile ernst­haft gefährdet.

Mit mili­tanten rechten Orga­ni­sa­tionen haben Sie sich im NSU-Unter­su­chungs­aus­schuss des Bundes­tags ausein­an­der­ge­setzt. Der Abschluss­be­richt wurde im Juni 2017 über­geben. Ist damit die parla­men­ta­ri­sche Aufar­bei­tung abge­hakt?

Nein, das Thema darf und wird auch nicht abge­hakt werden. Erstens laufen aktuell noch parla­men­ta­ri­sche Unter­su­chungs­aus­schüsse der Bundes­länder. Zwei­tens werden wir als Parla­men­ta­rier alle Mittel, die wir haben, nutzen, um Hinter­gründe weiter zu beleuchten und diese auch in die Öffent­lich­keit zu tragen. Meine Frak­tion hat sich im Übrigen dafür ausge­spro­chen, einen Unter­su­chungs­aus­schuss zum Thema Rechts­ter­ro­rismus und Geheim­dienste“ einzu­richten. Dafür fehlt leider aktuell die parla­men­ta­ri­sche Mehr­heit und der notwen­dige gesell­schaft­liche Druck. Vor allem nach dem Urteil im Münchner NSU-Prozess brau­chen wir aber diesen öffent­li­chen Druck. Sonst befürchte ich, dass die Bundes­an­walt­schaft die zwei noch laufenden Ermitt­lungs­ver­fahren im Sande verlaufen lässt. Das Netz­werk des Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grunds muss weiter aufge­klärt werden. Denn keiner kann heute behaupten, dass es nicht längst wieder Struk­turen wie den NSU gibt.

In Marzahn-Hellers­dorf haben Sie sich für Geflüch­tete stark gemacht. Wie sieht das poli­ti­sche Klima momentan in Ihrem Direkt­wahl­kreis aus?

Wir hatten in den vergan­genen Jahren glück­li­cher­weise weniger öffent­liche Proteste gegen Geflüch­te­ten­un­ter­künfte. Auch die Straf- und Gewalt­taten gegen Geflüch­tete sind zurück­ge­gangen. Dennoch beob­achte ich eine Wieder­ra­di­ka­li­sie­rung, sowohl von Bürger­initia­tiven als auch von Einzelnen. Das Ganze wird von der Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung bis zum Bundestag durch die AfD ange­facht. Sie zündeln immer unter­halb der Straf­bar­keits­grenze, stellen Behaup­tungen in den Raum und setzen darauf, dass diese wie Brand­be­schleu­niger auf dieje­nigen wirken, die bereit sind, Gewalt anzu­wenden.

Von diesen Bürger­initia­tiven wurden Sie 2015 vor Ihrer Wohnung bedroht. Wie unter­stützen Sie Enga­gierte, die nicht so gut geschützt sind wie Abge­ord­nete?

Eine Soli­da­ri­sie­rung mit jenen, die sich im Alltag für Demo­kratie enga­gieren, reicht nicht aus. Als Mandats­trä­gerin muss ich vor Ort sein, auch wenn es brenz­lich wird. Der Umgang mit der Basis ist mir wichtig, um Probleme recht­zeitig zu erkennen. Allein kann ich aber nur begrenzt unter­stützen. Ich würde mir wünschen, dass die Medien mehr über das enorme Enga­ge­ment der vielen hundert Frei­wil­ligen berichten, die sich bei mir im Bezirk für Demo­kratie und ein besseres Zusam­men­leben stark machen anstatt immer wieder Repor­tagen zu machen über ein und denselben Neonazi.

Auch in Ihrer Partei Die Linke“ gibt es Debatten über den Umgang mit Geflüch­teten. Ihre Frak­ti­ons­vor­sit­zende Sahra Wagen­knecht hat die Entschei­dung der Essener Tafel vertei­digt, nur noch Deut­sche“ als Neukunden aufzu­nehmen. Wo ist für Sie die Grenze linker Politik erreicht?

Zuschrei­bungen, dass manche Gruppen von Migranten ein Nehmer-Gen“ hätten, wie sie der Chef der Essener Tafel, Jörg Santor, geäu­ßert hat, sind für mich schlichtweg rassis­tisch. Das muss auch als rassis­tisch benannt werden, egal, wer so etwas äußert. Ande­rer­seits hat Sahra Wagen­knecht recht, dass nicht die einen Armen gegen die anderen Armen ausge­spielt werden dürfen. Genauso wie sie kriti­siere ich, dass der Staat seine Aufgabe der Daseins­vor­sorge nicht an Ehren­amt­liche ausla­gern kann.

Die aktu­elle Ausgabe der politikorange befasst sich mit Rassismus und Iden­tität“. Was hat Ihre Iden­tität beein­flusst?

Ich habe im September letzten Jahres genau 27 Jahre als Bürgerin der DDR verbracht und ebenso viele Jahre als Bürgerin der Bundes­re­pu­blik. Diese Vergan­gen­heit prägt einen. Sie ist aber gleich­zeitig auch Antrieb, mich für Bürger­rechte, Demo­kratie und soziale Gerech­tig­keit stark zu machen. In der DDR wurde versucht, im Rahmen der ökono­mi­schen Möglich­keiten soziale Gerech­tig­keit zu schaffen. Gleich­zeitig wurden Demo­kratie und Bürger­rechte suspen­diert. Beides muss aber als zwei Seiten ein und derselben Medaille zusammen gedacht werden. Aufgrund dieser Erfah­rungen kriti­siere ich es auch, wenn heute im Namen der Terro­rismus- und Krimi­na­li­täts­be­kämp­fung oder im Umgang mit Geflüch­teten Bürger­rechte einge­schränkt werden.

Auch in der DDR gab es Rassismus. Was haben Sie davon mitbe­kommen?

Eine viet­na­me­si­sche Freundin von mir war eine der soge­nannten Vertrags­ar­bei­te­rinnen. Viet­na­me­si­sche Frauen und Männer durften weder heiraten noch Kinder bekommen. Wer schwanger war, wurde ausge­wiesen. Sie wurden somit auch ihrer Bürger­rechte beraubt. Diese insti­tu­tio­nelle Form von Rassismus haben manche als Legi­ti­ma­tion für eigene Diskri­mi­nie­rungen aufge­fasst. Wer sagt, er habe solchen Rassismus nicht mitbe­kommen, muss schon ziem­lich gefühls­kalt sein. Ande­rer­seits gab es auch Rechts­extre­mismus. Eines der schlimmsten Beispiele ist der Über­fall von Ost- und West­ber­liner Skin­heads auf ein Punk­kon­zert in der Zions­kirche 1987. Solche Fälle wurden in der DDR vertuscht, weil nicht sein durfte, was nicht sein sollte im anti­fa­schis­ti­schen Staat. Diese Reali­täts­ver­wei­ge­rung ist zum Teil auch verant­wort­lich für die Wurzeln derer, die heute ihren Rassismus ausleben.


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