Hört ihr die Sirenen kommen?

Datum
23. März 2021
Autor*in
Lukas Siebeneicker
Redaktion
politikorange
Themen
#nofake 2021 #Medien

Para­noide Reichsbürger*innen und ein Geisel­drama im Trash-TV: Dem Schrift­steller Jan Wehn gelingt in seinen Werken die Darstel­lung der Absur­di­täten der Neuen Rechten. Ein Text von Lukas Sieben­ei­cker.

In Zeiten der Pandemie haben Verschwö­rungs­my­then Hoch­kon­junktur. Auf Demons­tra­tionen und in den Sozialen Medien behaupten selbst­er­nannte Querdenker*innen“ zum Beispiel, dass das Coro­na­virus von Bill Gates geplant wurde, um den Menschen Über­wa­chungs-Chips einzu­pflanzen. Tref­fend beschrieb der Schrift­steller Jan Wehn in seiner Novelle Morgellon“ schon vor vier Jahren den gefähr­li­chen Einfluss von Verschwö­rungs­er­zäh­lungen. Dies könnte man als hell­sich­tige Prognose der heutigen Situa­tion lesen. Schon damals war ihm klar, dass das Thema ernst ist. Aber ich konnte bei vielen Menschen erkennen, dass sie das Problem zu dem Zeit­punkt noch nicht ganz begriffen hatten. Als ab 2017 Verschwö­rungs­my­then zuneh­mend popu­lärer wurden, in den USA wie auch hier, hat sich das merk­lich verän­dert.“

Jetzt hat er einen Auszug aus seinem neuen Thea­ter­stück Recon­quista Reality“ veröf­fent­licht, in dem sich ein Nazi­ter­ro­rist in eine Dating-Reality-Show einschleust, um den Start­schuss einer rechten Revolte auszu­lösen. Eine zweite Prognose? Das noch unfer­tige Thea­ter­stück, das als Auszug in der Januar-Ausgabe des Berliner Maga­zins Das Wetter“ veröf­fent­licht wurde, setzt den Nazi-Adonis Julien ins Zentrum. Auf Geheiß seines Zieh­va­ters hat er sich einer Schön­heits­ope­ra­tion unter­zogen und gibt sich jetzt als Maschi­nen­bau­stu­dent aus, der – wie es sich für einen aufstre­benden Influencer gehört – früher Surf­lehrer auf Bali war. Julien besteht die Back­ground-Checks des alter­na­tiven Flirt­show-Formats und wird als Kandidat akzep­tiert. Die anderen Figuren, die an reale Teilnehmer*innen der Dating-Serie Love Island“ ange­lehnt sind, nehmen Julien begeis­tert auf („Oha, Maschiiine, Dicker!“). Doch während der Dreh­ar­beiten verliebt sich Julien in eine Kandi­datin und seine Revolte droht zu schei­tern.

Auf den ersten Blick wirkt das Szenario völlig unwirk­lich. Warum sucht sich Julien ausge­rechnet eine Fern­seh­serie für einen Anschlag aus? In der Post­mo­derne muss man die Gegen­frage stellen: Warum nicht? Schon längst kann man Live­streams sehen, in denen Menschen erschossen werden oder ihr alltäg­li­ches Aerobic-Programm durch­ziehen, während im Hinter­grund das Militär putscht. Viel­leicht ist alles nur eine Frage der Zeit. Wehns Idee wird auch durch das Wissen um die aktu­ellen Kontro­versen über Nazis im Reality-TV glaub­würdig. So wurde zum Beispiel im letzten Jahr eine briti­sche Holz­fäller-Serie abge­setzt, weil die Producer erst hinterher merkten, dass einer der Kerle“ ein Tattoo mit der Nazi-Code-Zahl 88 auf der Wange trug.

Jan Wehns Novelle Morgellon“, die 2017 im Berliner Korbi­nian Verlag erschien, kann als Vorge­schichte zu Recon­quista Reality“ gedeutet werden. Eigent­lich sollte Morgellon“ keine Vorher­sage, sondern ein Zeit­por­trät sein. Wir erin­nern uns: Scho­ckierte Quali­täts­me­dien sahen in Trumps Wahl­sieg und dem Erstarken der Iden­ti­tären Bewe­gung den Beginn eines post­fak­ti­schen Zeit­al­ters. Dass drei Jahre später ein Mob aus Blumen­kin­dern und Messer­ste­cher-Faschos den Sturm auf den Reichstag“ probte, ist mehr als nur fieser Zufall und zeigt neben dem Erstarken der Neuen Rechten das prophe­ti­sche Poten­zial dieser Novelle.

Worum es geht? Der Voll­zeit­stu­dent Noah ballert sich in seinen Semes­ter­fe­rien mit einem Amphet­amin-Cock­tail in einen wolkigen Dämmer­zu­stand. Auf einmal wird er von dröh­nenden Kopf­schmerzen geplagt und bald kommt er dank eines beson­ders vertrau­ens­wür­digen Inter­net­fo­rums auf deren nahe­lie­gende Ursache: Die Kondens­streifen am Himmel. Dann bilden sich auf Noahs Haut auch noch juckende Pusteln, die er ständig aufkratzt, weil er darin kleine Würmer vermutet. Seine esote­ri­sche Geliebte klas­si­fi­ziert diese dann im Brustton der Pseudo-Wissen­schaft­lich­keit als Morgel­lonen“, die man – na klar – nur mit Globuli thera­pieren könne. Span­nende Geschichte – Noah ist über­zeugt. Sie meint damit ein tatsäch­lich exis­tie­rendes Krank­heits­bild, bei dem Betrof­fene das wahn­hafte Gefühl haben, dass selt­same Fasern aus ihrer Haut wachsen. Jan Wehn erzählte mir im Gespräch: Jemand behauptet, da sei etwas in seinem Körper, das einen Juck­reiz auslöst. Dieses Phänomen ist nicht wissen­schaft­lich aner­kannt, aber man kann auch nicht wirk­lich von der Hand weisen, dass nicht doch etwas da ist. Das hat mich direkt faszi­niert.“ Wehn zufolge könnte man die Morgel­lonen auch als Meta­pher für Verschwö­rungs­my­then verstehen: Je mehr man an diesen Dingern herum­kratzt, desto schlimmer wird es. Das ist grund­sätz­lich eine Gefahr von Verschwö­rungs­theo­rien: Man liest etwas, man wird neugierig und beginnt, sich immer inten­siver damit zu beschäf­tigen und glaubt mehr und mehr daran.“

Außerdem ist nach Wehn die Verschwö­rungs­er­zäh­lung immer die bessere Story, auch in Zeiten von Corona. Schließ­lich ist ein geheimes Labor, das einen Virus entwi­ckelt, um die Welt aus den Angeln zu heben, inter­es­santer, als die echte Entste­hungs­ge­schichte. Das ist der Grund dafür, dass sich viele davon ange­zogen fühlen.“

Noah würde heute sicher bei Quer­denken“ mitlaufen. Doch diese Mythen haben bei Corona-Leugner*innen wie bei Noah darüber hinaus ein für die Gesell­schaft gefähr­li­ches, z. B. anti­se­mi­ti­sches Moment. Am Ende der Novelle trifft sich Noah mit anderen Reichsbürger*innen und tritt in ihren völki­schen Geheim­bund ein. Dessen Mitglieder über­zeugen ihn von der Über­macht der drei­zehn dämo­ni­schen Blut­li­nien, die auf die Jesuiten zurück­gehen“ und Noah verbar­ri­ka­diert sich mit der Schrot­flinte im Anschlag in seinem Zimmer. 

Längst gilt es als Binsen­weis­heit, dass das Bild des versof­fenen, unge­bil­deten, glatz­köp­figen Nazis ein veral­tetes Klischee ist. Das wird in Morgellon“, aber auch in Recon­quista Reality“, deut­lich. Im Drama bezieht sich Jan Wehn mit der Figur des durch­trai­nierten und char­manten Julien auch auf den Teil der Neuen Rechten, der mit Charisma, Elabo­riert­heit und dem gekonnten Umgang mit Sozialen Medien so viele Menschen wie möglich zu beein­flussen versucht. Jan Wehn erzählt, dass zum Beispiel Milo Yiann­o­poulos – Zieh­sohn des Trump-Bera­ters Steve Bannon und ehemals wich­tiger Jour­na­list des rechts­ra­di­kalen Breit­bart-Blogs – ein Vorbild für die Figur des Julien war. Der Titel des Thea­ter­stücks verweist gleich­zeitig auf das deut­sche, rechts­extreme Netz­werk Recon­quista Germa­nica“, das Online-Atta­cken auf poli­ti­sche Gegner*innen orga­ni­sierte, und die mit ihm verbun­dene Iden­ti­täre Bewe­gung. 

Wie geht es in unserer Gesell­schaft weiter? Die Anzahl der rechts­extremen Straf­taten ist nach Angaben der Bundes­re­gie­rung im Corona-Jahr 2020 stark gestiegen und Neonazis wie Attila Hild­mann können nach wie vor ihre Ideo­lo­gien medi­en­wirksam verbreiten. Wie es auch am Ende einer jeden Folge des ZEIT-Feuil­leton-Podcasts Die soge­nannte Gegen­wart“ Usus ist, habe ich Jan Wehn um eine Prognose gebeten: Wird ein Atten­täter, ganz wie in Recon­quista Reality“, in den nächsten fünf Jahren in irgend­einer Fern­seh­show dieser Welt ein Geisel­drama veran­stalten? Seine Antwort: Ja“.


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