Das Poli­ti­sche am unpo­li­tisch sein

Datum
30. Oktober 2020
Autor*in
Nils Hipp
Redaktion
politikorange
Themen
#politischkritischjung 2020 #Politik
Unpolitisch_Nils_Nils_Hipp_Jugendpresse 1

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Foto: Nils Hipp

Politik ist trocken, lang­weilig und offenbar nur etwas für alte Menschen. poli­ti­ko­range-Redak­teur Nils Hipp fragt sich, warum sich viele junge Leute nicht für Politik inter­es­sieren und zeigt auf, warum genau das so wichtig wäre.

Ich schlage die Augen auf: Der Wecker meines Handys spielt unauf­hör­lich diese unan­ge­nehme vorein­ge­stellte Melodie. Ich seufze, schalte den Wecker aus und entsperre mein Handy. Während ich zuerst Twitter und dann die Nach­richten-Apps meines Vertrauens öffne, reibe ich mir den letzten Schlaf aus den Augen. Was erwartet mich wohl heute? Was ist in den letzten acht Stunden wieder alles schief gegangen? Ist ganz Deutsch­land wieder über­rascht, dass eine weitere Hand­voll rechts­extremer Einzel­fälle“ in Bundes­wehr, Polizei oder Verfas­sungs­schutz aufge­taucht sind? Oder ist der Klima­wandel und mit ihm die größte Heraus­for­de­rung der Mensch­heits­ge­schichte einfach nur noch einen Tag näher gerückt? Schon vor dem ersten Kaffee liege ich also da, dieses 4,7‑Zoll-Fenster zum gesam­melten Schmerz und Leid der ganzen Welt in meiner Hand. Selten gibt es etwas, über das ich mich freuen kann. Noch bevor ich aufstehe, ins Wohn­zimmer gehe und das erste Wort des Tages mit einem leben­digen Menschen wechsle, entwei­chen mir in der Regel vier bis neun frus­trierte Seufzer. Doch ich wüsste nicht, was die Alter­na­tive ist: Ich kann mir Politik aus meinem Leben nicht wegdenken. Seit ich denken kann, disku­tiere ich mit meinen Eltern, Freund*innen und Lehrer*innen über große poli­ti­sche Themen oder tages­ak­tu­elle Nach­richten. Es ist mir wichtig, immer infor­miert zu sein.

Das Problem der unpo­li­ti­schen Jugend

Genau deshalb fiel es mir schwer, einen Bezug zum Thema unpo­li­tisch sein“ zu finden. Um einen Einblick in die Argu­men­ta­tion und die Sicht­weisen auf ein Leben ohne Politik zu bekommen, erstellte ich kurzer­hand eine Umfrage in meiner Insta­gram-Story. Alle Ergeb­nisse gibt es hier ausführ­lich zum Nach­lesen: Umfrage

Meine Umfrage bestä­tigt im Kleinen, was die renom­mierte Shell Jugend­studie in einem gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Kontext heraus­fand. Diese unter­suchte unter anderem die Frage: Wie stehen junge Menschen zu Politik, Gesell­schaft und Reli­gion?“. 2019 lieferte die Studie erschre­ckende Zahlen: Nur 8 % der Jugend­li­chen inter­es­sieren sich stark für Politik. Weitere 33 % beschreiben sich selbst als inter­es­siert. Das heißt: Weniger als die Hälfte der jungen Menschen in Deutsch­land zeigen aktives Inter­esse für Politik. Der Teil, der sich enga­giert, ist folg­lich noch einmal deut­lich kleiner.

Privi­le­gien verstehen und soli­da­risch sein

Poli­tisch wie auch unpo­li­tisch sein ist mit Privi­le­gien verbunden. Über diese verfügen nicht alle Menschen in Deutsch­land oder gar auf der Welt in glei­chem Maße.

Jeder Mensch ist in Deutsch­land vor dem Gesetz gleich. So steht es zumin­dest in Artikel 3 des deut­schen Grund­ge­setzes. Jedoch ist das mit syste­ma­ti­schem Rassismus in Behörden und rechts­extremen Einzel­fällen“ in verschie­denen Insti­tu­tionen, wie Verfas­sungs­schutz, Polizei oder Bundes­wehr, zwar ein schönes Verspre­chen, spie­gelt aber nicht die Lebens­rea­lität und Erfah­rungen vieler Menschen in Deutsch­land wieder.

Privi­le­gierte Menschen, sprich primär weiße Männer, sind wenig bis gar nicht von struk­tu­reller Diskri­mi­nie­rung und Rassismus betroffen. Daher gibt es für sie keinen exis­ten­zi­ellen Grund, auf die Probleme in einem System aufmerksam zu machen, das für einen selbst hervor­ra­gend funk­tio­niert. Schlechte Politik betrifft nicht zwangs­läufig alle Menschen.

Ein Zitat aus dem neu erschie­nenen Netflix-Film Elona Holmes“, welcher in einer von Männern domi­nierten Welt spielt, bringt das Ganze auf den Punkt: You don´t know what it is to be without power. Poli­tics doesn´t inte­rest you. Why? Because you have no inte­rest in chan­ging a world that already suits you“

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Foto: Nils Hipp

Die Realität in Deutsch­land bestä­tigt das. Mehr als 40 % der Jugend­li­chen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gaben in der Shell Studie an, im Alltag häufiger als andere benach­tei­ligt zu werden.

Auf der anderen Seite ist es jedoch auch ein Privileg, die Zeit und die Kapa­zi­täten zu besitzen, sich mit poli­ti­scher Theorie, Parteien und Systemen ausein­an­der­zu­setzen. Dabei spielt die poli­ti­sche Bildung durch Schule und Eltern eine große Rolle. Auch das zeigt die Shell Studie: Bezüg­lich der Bildungs­po­si­tion der Jugend­li­chen liegt ein deut­li­ches Gefälle vor. Jeder zweite Jugend­liche, der das Abitur anstrebt oder erreicht hat, bezeichnet sich als poli­tisch inter­es­siert. Bei Jugend­li­chen mit ange­strebtem oder erreichtem Haupt­schul­ab­schluss trifft dies hingegen nur auf jeden vierten zu.“

Infor­ma­tion, das höchste Gut der Demo­kratie

Aus Unwis­sen­heit leitet sich ein folgen­schweres Problem ab: Man* wird anfällig für simple Antworten auf komplexe Fragen. Jene Antworten, die popu­lis­ti­sche Politik durch einfache Feind­bilder liefert. Dass diese einfa­chen Antworten jedoch nur eine menschen­ver­ach­tende Gesin­nung verschleiern sollen, zeigen folgende Aussagen: Wir können die [Migrant*innen] nachher immer noch alle erschießen. Das ist über­haupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst“ des Ex-AfD-Pres­se­spre­chers Chris­tian Lüth. Ein weiteres Beispiel dafür liefert Marcel Grauf, Refe­rent von Chris­tine Baum (AfD) und Heiner Merz (AfD): immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holo­caust mal wieder lohnen würde.“ Mit einem derar­tigen Menschen­bild bestä­tigt die AfD, dass eine konstruk­tive, demo­kra­ti­sche Debatte mit ihr nicht zu führen ist.

Immer wieder legten Journalist*innen und der Verfas­sungs­schutz klare Beweise vor, die der Partei ein menschen­ver­ach­tendes Welt­bild und eine anti­de­mo­kra­ti­sche Haltung nach­wiesen. Dennoch versteht sich die AfD darin, sich selbst als Gegnerin des poli­ti­schen Estab­lish­ments zu insze­nieren: Sie hetzt verall­ge­mei­nernd gegen Geflüch­tete, die Main­stream Medien“ und die von ihnen als Altpar­teien“ diffa­mierten poli­ti­schen Gegner*innen.

Infor­miert man* sich nicht über verschie­dene Quellen, verfängt man* sich irgend­wann in dieser Blase aus sich immer selbst bestä­ti­genden Meinungen, die als seriöse Nach­richten getarnt in Face­book-Gruppen oder auf anderen Online-Portalen kursieren. Diffa­miert man* zudem noch jegliche kriti­sche Betrach­tung des eigenen Welt­bildes, als Propa­ganda der angeb­li­chen Lügen­presse“, fallen Unge­reimt­heiten im eigenen Welt­bild nicht auf und es fällt schwer, einen welt­of­fenen Blick zu bewahren.

Während ich diese letzten Sätze schreibe, sehe ich der Sonne dabei zu, wie sie langsam hinterm Hori­zont verschwindet. Ich denke an all das, was ich an diesem Tag, in den letzten Stunden gelesen und gehört habe. Es macht keinen Spaß. Es gibt so viele Probleme und niemand kann sie alle alleine angehen. Mir wurde klar, dass es keinen Sinn ergibt, sich alles, was auf der Welt passiert, auf die eigenen Schul­tern zu laden. Auch kann ich inzwi­schen besser nach­voll­ziehen, warum das viele Leute abschreckt. Ich verstehe den Impuls, Politik nicht in das eigene Leben zu inte­grieren. Doch die unan­ge­nehme Wahr­heit ist, dass es in einer Welt mit so vielen Problemen, deren Last so ungleich verteilt ist, nicht reicht, einmal alle vier Jahre wählen zu gehen. Es kann auch nicht sein, bei poli­ti­schen Diskus­sionen im persön­li­chen Umfeld jedes Mal zu schweigen und abzu­warten, bis es vorbei­geht.

Es ist nicht wichtig, ob wir immer bestens über die tages­ak­tu­elle Politik infor­miert sind, aber bei den großen Themen ist es keine Option, keine Meinung zu haben. Dabei ist es egal, ob wir diese im Internet, in der Schule, Univer­sität oder im Freun­des­kreis vertei­digt. Demo­kratie lebt von Diskurs und eben jenen müssen wir führen.

Dieser Beitrag ist im Rahmen eines gemein­samen Projekts von sagwas​.net und poli​ti​ko​range​.de entstanden.


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