Trila­te­rale Iden­ti­täts­suche in Berlin

Datum
19. Dezember 2018
Autor*in
Nina Heinrich
Redaktion
politikorange
Themen
#re_identity 2020 #Gen Z
Researching Identity I

Researching Identity I

Researching Identity. Foto: Nour Alabras

Die Berlin-Reise des Fragens, Forschens und Schrei­bens in der November-Kälte ist vorbei. Was bleibt, sind die Artikel der jungen Jour­na­lis­tinnen und Jour­na­listen aus Israel, Paläs­tina und Deutsch­land auf unserem Blog. Wie ist es der Gruppe bei der Reise ergangen?

Ich vermisse Netflix“, seufzte Nadav Glick, die Physalis vom Rand seines Cock­tails pflü­ckend. Warum?“, fragte ich leicht verwun­dert, Ist das WLAN im Hostel so schlecht?“, Nein“, entgeg­nete er, Nur Netflix kann ich zuhause in Israel ja jeden Tag schauen. Mit Paläs­ti­nen­sern feiern gehen, das geht nur hier in Berlin.“ Die poli­ti­sche Rele­vanz des Projekts, das Initiator und Projekt­leiter Mathias Birsens mit der Jugend­presse Deutsch­land geschaffen hatte, wurde in solchen Momenten beson­ders spürbar. In den acht inten­siven Work­shop-Tagen erprobten die Teil­neh­me­rinnen und Teil­nehmer aus Israel, den paläs­ti­nen­si­schen Gebieten und Deutsch­land gemeinsam nicht nur die reiche Getränke-Auswahl der Haupt­stadt, sondern trafen vor allem zahl­reiche Vertreter und Vertre­te­rinnen aus Politik und Medien, Jour­na­lismus sowie Akti­visten und Akti­vis­tinnen mit israe­li­schem und arabi­schem Hinter­grund, die Berlin zum Ort ihres Lebens und Schaf­fens auser­koren hatten. Mir hat hier alles gefallen – bis auf das Wetter“, kommen­tierte Ayed von der Pales­ti­nian Peace Coali­tion. Während der gesamten Woche hatte sich eine undurch­läs­sige graue Decke über die nass-kalten Straßen gelegt. Die vielen unter­schied­li­chen Persön­lich­keiten inner­halb der Gruppe jedoch ließ die jour­na­lis­ti­sche Arbeit hell leuchten. Zwischen Kultur, Reli­gion, Geschichte und Gegen­wart Trotz der langen Reise aus dem Nahen Osten in die sibi­ri­sche Novem­ber­kälte Berlins hatten die jungen Medi­en­ma­chenden unzäh­lige Fragen an unsere Gäste, die paläs­ti­nen­si­sche Botschaf­terin, Dr. Khou­loud Daibes, den Gesandten der israe­li­schen Botschaft Avi Nir-Feld­klein, Anna Rück­heim vom Auswär­tigem Amt und den Mitgründer der Orga­ni­sa­tion al-Sharq Chris­toph Dinke­laker, die mit Input-Vorträgen am Montag das Programm eröff­neten. Wir waren vor Müdig­keit und Aufre­gung wie betrunken“, sagte Chef­re­dak­teurin Amit Eshel, das hat uns als Gruppe sofort zusam­men­ge­schweißt“. Die Führung durch die Ausstel­lung Topo­gra­phie des Terrors“ am folgenden Morgen bedeu­tete für einige der Teil­neh­menden vor allem, denmKon­takt zum Forschungs­mit­glied der Einrich­tung und Muse­ums­päd­agogen Samuel Schidem herzu­stellen, der, selbst in einem drusi­schen Dorf zur Welt gekommen, der Gruppe das Thema der Täter-Psycho­logie während des Holo­causts erklärt. Wir reden in diesem Zusam­men­hang so viel über die Täter und so wenig über die Opfer“, merkte Eylül Tufan aus der Gruppe der deut­schen Teil­neh­menden an. Amit erwi­derte: Komm nach Israel.“
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Foto: Nour Alabras

Bei der anschlie­ßenden Stadt­füh­rung mit Kunst-Histo­riker Tobias Allers zum Thema Migra­tion“ ist das Redak­ti­ons­team um Asmaa Shehadeh aus Ramallah, Eliana Rudee aus Jeru­salem und Katha­rina Petry aus Marburg beson­ders faszi­niert vom Projekt House of One“, das eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee vereinen soll. Bei einem der Recher­che­ter­mine am Freitag wollte von Asmaa Birol Ucan von der Omar Ibn Al-Khattab-Moschee am Kott­busser Tor wissen, was er von dem Projekt hielte: Hier in Kreuz­berg besteht gene­rell eine große Tole­ranz unter den Reli­gionen. Trotzdem gibt es Unter­schiede, die nicht einfach so igno­riert werden sollten.“ Wie unvor­ein­ge­nommen Menschen in Berlin beim offen­sicht­li­chen Tragen reli­giöser Symbole tatsäch­lich mitein­ander umgehen, ergrün­dete die Gruppe in ihrem Artikel Kippot, Hijab and Crosses in Berlin? Oh Nein!. Medien als Sprach­rohr von Welt und Gene­ra­tion Wie unter­scheidet sich die deut­sche Medi­en­land­schaft von der im Nahen Osten? Wie spie­gelt sich auch die Migra­ti­ons­ge­schichte des Landes in ihr wieder? Um diese Fragen zu klären, besuchten wir die Redak­tion des Nahost-Maga­zins Zenith“, die auf Deutsch, Englisch und zum Teil Arabisch über die Region berichten. Die Redak­tion ist mit Menschen unter­schied­lichster Hinter­gründe besetzt, die vielen Einflüsse in einer Stadt wie Berlin drücken sich auch in der aus ihr hervor­ge­henden Infor­ma­ti­ons­kultur aus. Eylül Tufan aus Hamburg, Nida Abufahra aus Beth­lehem und Nadav Glick aus Tel Aviv inter­viewten mehrere Menschen, die aus einem anderen Land nach Berlin gekommen waren, um sich hier ein neues Leben aufzu­bauen, zu ihren Defi­ni­tionen von Heimat: Call Me By My Home. Auch die Macher des Online-Blogs Amal, Berlin!“ möchten zur Medien- und Kultur­land­schaft entspre­chend der viel­sei­tigen natio­nalen und kultu­rellen Iden­ti­täten, die sich in der Haupt­stadt tummeln, beitragen. Sie schreiben Geschichten aus der Haupt­stadt auf Arabisch sowie Farsi-Dari und luden unsere Work­shop-Gruppe in ihre Redak­ti­ons­räume ein. Darüber hinaus erhielten wir Einblicke in die Hinter­gründe der post­mi­gran­ti­schen Ausrich­tung des Maxim Gorki-Thea­ters. Dort spra­chen die Teil­neh­menden mit dem jungen Drama­turgen und Regis­seur Chris­to­pher-Fares Köhler, der in Deutsch­land und Jorda­nien aufwuchs. Was bedeutet post­mi­gran­tisch?“, lautete eine der ersten Fragen. Das Theater möchte den Wandel, den eine Gesell­schaft durch Wellen der Migra­tion voll­zogen hat, in die künst­le­ri­sche Ausar­bei­tung mit aufnehmen. Dazu gehört, Künst­le­rinnen und Künst­lern, die als Geflüch­tete nach Berlin kamen, gezielt eine Bühne für ihre Perspek­tiven zu geben.
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Foto: Nour Alabras

Als beson­ders faszi­nie­rendes Beispiel eines funk­tio­nie­renden Verhält­nisses zwischen Presse und Politik erlebten die paläs­ti­nen­si­schen und israe­li­schen Teil­neh­menden die Bundes­pres­se­kon­fe­renz mit Regie­rungs­spre­chern: Wenn wir unserem Premier­mi­nister eine Frage stellen möchten, gibt es nur eine Möglich­keit: Einen Kommentar bei Twitter hinter­lassen und pausenlos die Seite aktua­li­sieren“, erzählen die Teil­neh­menden aus Israel. Doch geht es der deut­schen Medi­en­land­schaft in ihrer Viel­sei­tig­keit nicht nur rosig, vor allem Tages­zei­tungen erscheinen kaum noch in gedruckter Form. Auch die taz über­legt nun, auf Wochen­zei­tung umzu­stellen“, erzählt Pepe Egger von Der Freitag“ beim Redak­ti­ons­be­such. Gerade hatte das Medium die Kampagne #unten in die Online-Welt verbreitet, die bei der ange­spro­chenen Ziel­gruppe – dem Preka­riat – auf über­ra­schend viel Aufmerk­sam­keit gestoßen war. Die jungen Medi­en­ma­chenden verstanden, dass auch der klas­si­sche Zeitungs­jour­na­lismus in der digi­ta­li­sierten Welt neue Wege gehen muss – und befüllten fleißig ihre Insta­gram- und Twitter-Accounts mit Eindrü­cken aus dem Gespräch. Zwischen­mensch­liche Begeg­nungen und xeno­phobe Werbe­kam­pa­gnen Am gemein­samen Recher­chetag schwärmten die Jour­na­lis­tinnen und Jour­na­listen aus, trafen sich zum gemein­samen Mittags­essen mit Tal Alon, der Grün­derin des ersten hebrä­isch­spra­chigen Maga­zins in Deutsch­land seit dem Holo­caust, führten Gespräche mit der Frie­dens­ak­ti­vistin Yehudit Yinhar, Nathmi Abu Shedeq von der Pales­ti­nian Student Union, dem Künstler Shlomi Wagner, der als die Drag Queen Mazy Mazeltov auftritt, und Dalia Grin­feld von der Jüdi­schen Studen­ten­union. Dem Finden und Inter­viewen schil­lernder Berliner Persön­lich­keiten mit Wurzeln im Nahen Osten widmeten sich Sami David Rauscher aus Berlin und Noa Amiel aus Tel Aviv für ihren Artikel Performing iden­tity: A city to find and lose oneself mit größter Hingabe. Entstanden sind die Portraits dreier Künstler, die ihre Inspi­ra­tion genau aus dieser Durch­läs­sig­keit von Iden­tität und Zuge­hö­rig­keit schöpfen, die eine Stadt wie Berlin ihnen bietet.
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Foto: Nour Alabras

Bei einer der vielen Herden­jagden von U2 zur S1 lenkte sich die Aufmerk­sam­keit des Trupps auf ein neues Plakat des Bundes­mi­nis­te­riums: Dein Land. Deine Zukunft. Jetzt!“ Die neue Kampagne möchte Asyl­be­wer­be­rinnen und Asybe­werber in Deutsch­land über ein konkretes Beloh­nungs­system dazu bringen, in das jewei­lige Heimat“-Land zurück­zu­kehren. Das viel­fach kriti­sierte Programm des BMI diente den Teil­neh­menden Suleiman Maswadeh und Miral Nash­shibi aus Jeru­salem sowie Dennis Belt­chikov aus Hamburg als Aufhänger für ihre weiteren Recher­chen. Sie inter­viewten Nour Alabras, Foto­grafin inner­halb des Projekt­teams, die 2015 von Syrien nach Deutsch­land floh und nun in Berlin lebt. Die Flucht selbst, die Umstände, die dazu führten und natür­lich auch der Beginn eines neuen Lebens stellten sie immer wieder vor die Befra­gung ihrer eignen Iden­tität. Man könne nicht davon ausgehen, dass das Land, aus dem man käme, die Heimat sei. Wie der Autor Armin Langer, den die Gruppe während der Woche auch zum Gespräch traf, auf die Frage Was macht einen Deut­schen deutsch?“ antwor­tete: Sein Pass“. Der Artikel Your country – MY future erzählt die Geschichte von Nour. Gemeinsam Frieden gestalten Zwischen der Fülle von Kultur, NGOs und Medi­en­häu­sern Berlin-Mittes, der grau-beigen Weite Fried­richs­hains, dem Niemands­land rund um den Haupt­bahnhof und den dunklen Kaschemmen Kreuz­bergs und Neuköllns lernten die Teil­neh­menden, dass der Wunsch nach Erkennt­nis­ge­winn unwei­ger­lich mit der Frage nach Iden­tität verknüpft ist. Hinter dieser verbergen sich unzäh­lige inter­kul­tu­relle Problem­stel­lungen. Die Absur­dität dahinter, ein Volk selbst zum Feind­bild zu erklären wird dann beson­ders deut­lich, wenn Namen, Gesichter und Persön­lich­keiten aus dieser theo­re­ti­schen Masse hervor­treten. Wie Anna Rück­heim sagte: Es genügt nicht, wenn Regie­rungen sich treffen – Menschen müssen sich begegnen.“ Suleiman aus der israe­li­schen Dele­ga­tion und Miral von paläs­ti­nen­si­scher Seite, die beide in Jeru­salem wohnen, stellten fest, dass sie fast Nach­barn sind. Um sich kennen lernen zu können, mussten sie über 4.000 Kilo­meter weit reisen. Berlin ist wie Tel Aviv, nur ohne die enorme poli­ti­sche Span­nung“, stellte Noa fest.
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Foto: Nour Alabras

Eine gemein­same Welt ohne unüber­brück­bare Konflikte zu schaffen, mag utopisch sein, doch die jungen Jour­na­lis­tinnen und Jour­na­listen aus drei unter­schied­li­chen kultu­rellen Hinter­gründen haben in diesen acht Tagen einen großen Schritt dafür getan, zu verstehen, dass die gemein­same Geschichte uns nicht nur trennt, sondern auch unwei­ger­lich verbindet. Und dass jede neuen Gene­ra­tion an der Aufar­bei­tung dessen und somit daran, Frieden herzu­stellen und zu erhalten, mitwirken kann. Im März 2019 wird das Seminar mit der glei­chen Gruppe an verschie­denen Orten in Israel und Paläs­tina fort­ge­setzt.

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