Lasst sie wählen!

Datum
05. Dezember 2017
Autor*in
Jana Borchers
Redaktion
politikorange
Thema
#YMA17
10 Millionen Menschen in Deutschland dürfen nicht wählen

10 Millionen Menschen in Deutschland dürfen nicht wählen

10 Millionen Menschen in Deutschland dürfen nicht wählen

Fast zwölf Prozent der in Deutsch­land lebenden Erwach­senen sind vom Wahl­recht ausge­schlossen, weil sie keinen deut­schen Pass haben. Das ist unde­mo­kra­tisch und nutzt den Rechts­po­pu­listen, findet Jana Borchers.

Wahlrecht ist in Deutschland nach wie vor ein Privileg

Wahlrecht ist in Deutschland nach wie vor ein Privileg.

Migra­tion und Asyl­recht haben die öffent­liche Debatte vor und während des Wahl­kamps bestimmt. Das Thema hat von Leit­kul­tur­de­batten bis zu Nazi­vor­würfen verschie­denste Emotionen frei­ge­setzt und eine Rhetorik aus Hass und Angst geför­dert, der nicht zuletzt die AfD ihren Erfolg bei der Bundes­tags­wahl zu verdanken hat. Dieje­nigen aber, die am stärksten von dem Thema betroffen sind, die unter den Geset­zes­ver­schär­fungen zu leiden haben und unter der Verro­hung der Sprache, durften dabei nicht mitent­scheiden.

Wer keinen deut­schen Pass hat, ist in Deutsch­land auf fast allen Ebenen vom Wahl­recht ausge­schlossen. Ledig­lich EU-Auslän­de­rinnen und Ausländer dürfen an Kommu­nal­wahlen teil­nehmen. Damit sind die Rege­lungen deut­lich strenger als in vielen anderen Ländern – in zwölf EU-Staaten dürfen alle Auslän­de­rinnen und Ausländer an Kommu­nal­wahlen teil­nehmen, in Chile, Uruguay und Neusee­land sogar an natio­nalen Wahlen, wenn sie seit einer bestimmten Zeit dort leben. Nicht nur das – auch die Hürden zur Einbür­ge­rung oder doppelter Staats­bür­ger­schaft sind in Deutsch­land deut­lich höher.

An der Lebens­wirk­lich­keit vorbei

Histo­risch gesehen war es viel­leicht einmal sinn­voll, das Wahl­recht an die Staats­bür­ger­schaft zu binden. Mit der heutigen Lebens­wirk­lich­keit in vielen west­li­chen Ländern lässt es sich aber kaum noch verein­baren. Deutsch­land ist nun bereits seit vielen Jahren eine Einwan­de­rungs­ge­sell­schaft, jede fünfte der hier lebenden Personen hat einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Viele von ihnen sind hier geboren und aufge­wachsen, sie arbeiten in Deutsch­land oder studieren. Sie sind von deut­scher Politik nicht minder betroffen als der Rest der Bevöl­ke­rung. Dennoch haben laut Statis­ti­schem Bundesamt rund zwölf Prozent der hier lebenden Menschen nicht das Recht, am urei­gensten Prinzip der Demo­kratie, den Wahlen, teil­zu­nehmen.

Deut­sche, die im Ausland leben, müssen zur Teil­nahme an deut­schen Wahlen nach­weisen, dass sie sich seit ihrem 14. Lebens­jahr mindes­tens drei Monate unun­ter­bro­chen in Deutsch­land aufge­halten haben. Das ist eine verschwin­dend geringe Zeit. Dazu gehört auch Renter vor, der vor 40 Jahren nach Spanien ausge­wan­dert ist und nur ab und zu ein paar Wochen in seinem Feri­en­haus auf Sylt verbringt. Eine Studentin, die in Deutsch­land geboren und aufge­wachsen ist, die aber keinen deut­schen Pass hat, weil ihre Eltern vor 30 Jahren aus dem Libanon geflohen sind und nur mit Duldung hier leben, gehört nicht dazu. Wer ist wohl stärker von deut­scher Politik betroffen? Dass nur erstere Person wahl­be­rech­tigt ist, zeigt die Absur­dität der aktu­ellen Geset­zes­lage.

Migran­tinnen und Migranten wählen keine Nazis

Die fehlende Stimme der Migran­tinnen und Migranten schlägt sich in den Ergeb­nissen aller Wahlen nieder. Egal ob nach Land­tags­wahlen, bei denen die AfD in die Parla­mente einzog, oder nach der Bundes­tags­wahl: Immer wieder hört man die These, viele Menschen hätten die AfD gar nicht gewählt, weil sie sich tatsäch­lich mit deren Inhalten iden­ti­fi­zieren, sondern nur weil sie von den etablierten Parteien enttäuscht seien. Ihnen ist das möglich, weil sie unter den Folgen des Aufstiegs einer rechts­extremen Partei am wenigsten zu leiden haben. Menschen mit Migra­ti­ons­ge­schichte hingegen wählen keine Partei, die gegen Menschen mit Migra­ti­ons­ge­schichte hetzt. Nicht aus Protest. Nicht, um den übrigen Parteien eins auszu­wi­schen.

Bei der Veran­stal­tung Hier wählen Alle“, orga­ni­siert vom Verein Neue Nach­bar­schaft Moabit“ in Berlin, durften am 24. September alle Menschen, die vom Wahl­recht ausge­schlossen sind, symbo­lisch ihre Stimme abgeben. Die meisten Stimmen erhielt dabei Linke und Grüne mit zusammen über 50 Prozent, für die AfD stimmte niemand. Nur einmal ange­nommen, dieses Ergebnis wäre reprä­sen­tativ für die zwölf Prozent in Deutsch­land lebenden Menschen ohne deut­schen Pass – mit einem refor­mierten Wahl­recht wäre das Ergebnis der Bundes­tags­wahl heute ein anderes. Und eine Partei wie die SPD würde sich viel­leicht auch zweimal über­legen, ob sie im rechts­po­pu­lis­ti­schen Jargon vor einer Wieder­ho­lung der Zustände von 2015“ warnt, wenn sie um die Stimmen all dieser Menschen kämpfen müsste.

Armuts­zeugnis für Deutsch­lands Demo­kratie

Zwölf Prozent sind keine Rand­gruppe. Das sind zehn Millionen Menschen. Zehn Millionen Menschen, denen ein essen­ti­elles demo­kra­ti­sches Recht verwehrt wird. Und es ist ein Armuts­zeugnis für unsere Demo­kratie, dass niemand damit ein Problem zu haben scheint.

Das Wahl­recht für Migran­tinnen und Migranten auszu­weiten ist derzeit weder Thema der öffent­li­chen Debatte noch gibt es aktuell eine Partei, die eine Reform des Wahl­rechts für Menschen ohne deut­schen Pass fordert. Die demo­kra­ti­schen Parteien im Bundestag sollten sich drin­gend über­legen, ob sie weiterhin auf die Rhetorik der AfD einschwenken und ihre gesamte Politik an den Bedürf­nissen der besorgten Bürger“ ausrichten wollen – oder ob sie sich endlich für das Mitbe­stim­mungs­recht derje­nigen einsetzen, die die Folgen des Rechts­rucks am schmerz­haf­testen zu spüren bekommen.


Dieser Artikel wurde im Rahmen der Yalla Media Akademie“ verfasst. Hier lernen Nach­wuchs­jour­na­lis­tinnen und ‑jour­na­listen, den Redak­ti­ons­alltag kennen und Artikel zu schreiben. Auf Arabisch erscheint dieser Artikel bei Eed be Eed.

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