Keine Wende in Sicht? – Die mangel­hafte Infra­struktur der Bahn in Ostdeutsch­land und ihre Folgen

Datum
08. Dezember 2025
Autor*in
Elias Kim Berndt
Redaktion
nah:dran
Thema
#lokales
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Ich komm hier nicht raus!“, das ist zumin­dest mein Gedanke, wenn ich auf die Fahrt­zeiten mit der Bahn schaue, um als Chem­nitzer auch mal etwas anderes zu sehen als Dresden oder Leipzig. Das Einzige, was mir bei Tages­trips in den Kopf kommt, wären Erfurt oder Berlin. Beide immerhin in zwei bis vier Stunden per Zug erreichbar. Bei München oder Hamburg bin ich aber schon bei vier bis fünf Stunden, voraus­ge­setzt, es gibt keine Verspä­tung à la Deut­sche Bahn. 

Also doch im Osten bleiben. Wie wär’s mit Nord­thü­ringen? Da wohnen ja immerhin Freunde von mir, viel­leicht also mal ein Trip dahin. Kurz nach der Strecke geschaut: Ach, vier Stunden mit dem güns­ti­geren Nahver­kehr, über Leipzig.. Außer ich schaffe meinen Vier-Minuten-Anschluss in Erfurt nicht, dann sind es fünf (Q1.1). Wenn ich ein Auto hätte, wäre ich schon in zwei Stunden am Ziel (Q2). 

Wenn ich an Erfurt denke, denke ich in dem Kontext an schnelle Anbin­dungen mit dem Fern­ver­kehr nach Bayern oder an die Nordsee. Warum hat Chem­nitz nicht so eine Anbin­dung? Ein großer Player in dieser Geschichte ist das Verkehrs­pro­jekt Deut­sche Einheit 8 (VDE 8), das eine Schnell­bahn­strecke zwischen Nürn­berg und Berlin reali­sieren sollte (Q3). Die Möglich­keit, die Trasse über Gera und Leipzig zu bauen, welche indi­rekt auch Zwickau und Chem­nitz mit Nürn­berg und München verbunden hätte, bestand in den 1990ern (Q4). Der Vorschlag stand jedoch in Konkur­renz zum Verlauf über Erfurt, der soge­nannten Erfurt-Beule“, die letzt­lich umge­setzt wurde (Q3, 4). Damit wurden Chem­nitz und das Umland abge­hängt. Bis heute fehlen direkte Bahn­an­bin­dungen in west­deut­sche Metro­pol­re­gionen. 

Auch klei­nere Gemeinden sind in den letzten Jahren zuneh­mend abge­hängt worden. Zahl­reiche Stre­cken, über 5.400 km (Stand 2018), wurden nach der Wende von der 1994 gegrün­deten Deut­schen Bahn AG still­ge­legt (Q5). Aber schon davor stellte man schritt­weise Verbin­dungen ein. Betroffen war zum Beispiel der Ort Kalbe (Milde), der ab 1991 keinen Bahn­an­schluss mehr hatte und 2020 nur noch indi­rekt über den ÖPNV an Magde­burg als nächst­ge­le­gene Groß­stadt in Sachsen-Anhalt ange­bunden war (Q6). Das Inter­esse an halb­wegs intakten Bahn­ver­bin­dungen schwand nach der Priva­ti­sie­rung der Bahn, da viele Stre­cken sinkende Nutzer­zahlen verzeich­neten (Q13). 

Demo­gra­phisch gesehen zeigt sich, was passiert, wenn Orte schwer erreichbar sind, oder schon der Weg hinaus zur Hürde wird, sodass man kaum wieder­kommen möchte. Zahl­reiche Gemeinden, beson­ders im Osten, verlieren durch den demo­gra­phi­schen Wandel immer mehr Einwohner (Q7.1). Dabei zieht es gerade junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren vom Land in die Groß­stadt (Q7.2). Dass große Städte besser erreichbar sind als klei­nere Gemeinden, lässt sich zumin­dest als Indi­kator werten, dass ein Zusam­men­hang zwischen Mobi­lität und Abwan­de­rung der jungen Gene­ra­tion besteht. Immerhin ist Mobi­lität inso­fern ein zentraler Faktor, als dass sie beispiels­weise die Lebens­qua­lität und die soziale Teil­habe beein­flusst (Q8.1). Gleich­zeitig steht die Erreich­bar­keit von Ausbil­dung, Schulen und Arbeits­plätzen im Mittel­punkt, so das BBSR und das IAB mir gegen­über. Ich als Schüler kann selbst sagen, dass ich, wie viele andere, auf Bahn und Bus ange­wiesen bin, um die Schule zu errei­chen, da Führer­schein und Auto in der Regel recht teuer sind. Wichtig zu erwähnen ist aber auch, dass Mobi­lität kein allei­niger Faktor für die Abwan­de­rung ist. Eine allge­mein gute Nahver­sor­gung spielt hier ebenso eine wich­tige Rolle (Q8.2). 

Poli­tisch gesehen kann in Regionen mit allge­mein schlechter Infra­struktur eine höhere Zustim­mung zu rechts­po­pu­lis­ti­schen Parteien auftreten. Gerade in den neuen Bundes­län­dern ist das zu beob­achten. Infra­struk­turen von beson­derem öffent­li­chen Inter­esse, wozu in der Regel auch der ÖPNV gehört, gelten als Daseins­vor­sorge, da sie wichtig sind, um am öffent­li­chen Leben teil­haben zu können. Der Staat hat sich zur Siche­rung dieser Daseins­vor­sorge verpflichtet. Das Gefühl in den oben genannten Regionen, abge­hängt worden zu sein, spie­gelt sich heute zum Teil in den Wahl­er­geb­nissen wider (Q9). 

Was also tun? Und wie lassen sich mögliche Lösungen umsetzen? 

Für Chem­nitz und das Vogt­land lohnt es sich natür­lich nicht mehr, die VDE 8 neu zu bauen. Erfurt hat als Landes­haupt­stadt Thürin­gens stark profi­tiert, mit direkten Verbin­dungen und einfa­cheren Möglich­keiten nach München, Nürn­berg, Berlin, Hamburg, in die Alpen sowie an Nord- und Ostsee. Das ist natür­lich in jeder Hinsicht gut für diese ostdeut­sche Region (Q1.2). 

Aber was ist nun mit dem Süden Sach­sens? 

Ganz hoff­nungslos sieht es für den Frei­staat nicht aus: Die Mitte-Deutsch­land-Verbin­dung ist hier das Stich­wort. Sie führt vom Rhein­land über Thüringen nach Sachsen. Der Abschnitt Weimar – Gößnitz in Thüringen soll elek­tri­fi­ziert und zwei­gleisig ausge­baut werden (Q10). Damit wird die Region um Chem­nitz besser an Erfurt ange­bunden, und die Chance auf ein Fern­zug­an­gebot in den Westen rückt in greif­bare Nähe (Q10.1). Die Fertig­stel­lung ist voraus­sicht­lich bis 2030 geplant (Q10). 

Eben­falls möglich, wenn auch komplex, wäre die Reak­ti­vie­rung still­ge­legter Bahn­stre­cken, um wieder mehr Nahver­kehr auf die Schiene zu bringen. Orte würden von einer besseren Anbin­dung an die Städte profi­tieren, insbe­son­dere in Bezug auf Bevöl­ke­rungs­sta­bi­li­sie­rung und ‑wachstum (Q11; 13). Weniger komplex, aber gesell­schaft­lich wert­voll, wäre eine Takt­ver­dich­tung im Busver­kehr. Regel­mä­ßige Verbin­dungen zwischen Dörfern und Städten wären zwar wirt­schaft­lich kaum lukrativ, hätten aber einen hohen sozialen Nutzen, etwa, um Schulen oder Arzt­praxen besser zu errei­chen. Als gutes voran­ge­hendes Beispiel: der Azubi-Shuttle in Bayern, der Orte mit schlechtem ÖPNV an Ausbil­dungs­stätten anbindet (Q12). Solche Ansätze könnten hoffent­lich dazu beitragen, dass sich das poli­ti­sche Klima in die Mitte bewegt. Vor allem aber muss man sich dann irgend­wann nicht mehr denken: Ich komm hier nicht raus. 

Quellen: 

Q1.1‑Deutsche Bahn, Fahr­plan­aus­kunft auf www​.bahn​.de ; Stand November 25 

Q1.2- https://​cms​.static​-bahn​.de/​w​m​e​d​i​a​/​r​e​d​a​k​t​i​o​n​/​a​u​s​h​a​e​n​g​e​/​s​t​r​e​c​k​e​n​k​a​r​t​e​/​L​i​n​i​e​n​n​e​t​z​-​I​C​E​-​I​C.pdf 

Q2- Apple Karten; Stand November 25 

Q3-https://​www​.vde8​.de/​d​e​/​p​r​o​j​e​k​t​/​g​e​s​c​h​ichte 

Q4-https://​youtu​.be/​a​g​G​W​x​L​a​9​r​j​I​?​s​i​=​82​q​q​2​A​Y​M​M​S​W​HQweo 

Q5-https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutsche-bahn-deutsche-bahn-hat-16-prozent-ihrer-schienen-stillgelegt‑1.4268351# Stand 2018 

Q6-https://www.insa.de/aktuelles/Linie%20100%20f%C3%A4hrt%20ab%20Mai%20st%C3%BCndlich%20%20von%20Salzwedel%20nach%20Magdeburg 

Q7.1- https://​www​.berlin​-institut​.org/​t​h​e​m​e​n​/​n​a​t​i​o​n​a​l​/​d​e​m​o​g​r​a​f​i​s​c​h​e​r​-​w​andel 

Q7.2- https://​www​.bbsr​.bund​.de/​B​B​S​R​/​D​E​/​s​t​a​r​t​s​e​i​t​e​/​t​o​p​m​e​l​d​u​n​g​e​n​/​l​a​e​n​d​l​i​c​h​e​-​r​a​e​u​m​e​-​u​m​z​u​e​g​e​.html 

Q8.1 so das BBSR in einer privaten Antwort  

Q8.2 so das IAB in einer privaten Antwort  

Q9-https://​lite​ratur​.thuenen​.de/​d​i​g​b​i​b​_​e​x​t​e​r​n​/​d​n​069601.pdf 

Q10.1-https://​elek​tri​fi​zie​rung​-wgg​.deut​sche​bahn​.com/​u​e​b​e​r​b​l​i​c​k​/​d​a​s​-​p​r​o​j​e​k​t​.html 

Q10.2-https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/bahn-mitte-deutschland-verbindunge-ausbau-elektrifizierung-100~amp.html 

Q11 https://​www​.bbsr​.bund​.de/​B​B​S​R​/​D​E​/​v​e​r​o​e​f​f​e​n​t​l​i​c​h​u​n​g​e​n​/​b​b​s​r​-​o​n​l​i​n​e​/​2022​/​b​b​s​r​-​o​n​l​i​ne-27 – 2022.html 

Q12-https://​www​.mobi​likon​.de/​p​r​a​x​i​s​b​e​i​s​p​i​e​l​/​a​z​u​b​i​s​h​u​t​t​l​e​-​i​m​-​l​a​n​d​k​r​e​i​s​-​r​h​o​e​n​-​g​r​a​bfeld 

Q13 https://​www​.allianz​-pro​-schiene​.de/​t​h​e​m​e​n​/​i​n​f​r​a​s​t​r​u​k​t​u​r​/​r​e​a​k​t​i​v​i​e​r​u​n​g​-​b​a​h​n​s​t​r​e​cken/ 

*Dieser Beitrag ist im Rahmen einer eintägigen Jugendredaktion entstanden. 

 

Die mobile Jugendredaktion ist Teil des Projekts nah:dran – Medien für alle. Im Mittelpunkt stehen die Themen, Wünsche und Anliegen junger Menschen aus strukturschwachen Regionen. Ziel ist es, ihnen eine Plattform zu bieten und ihre Perspektiven in der Medienlandschaft sichtbar zu machen. Das Projekt wird im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!” durch das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. 

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