„Ich komm hier nicht raus!“, das ist zumindest mein Gedanke, wenn ich auf die Fahrtzeiten mit der Bahn schaue, um als Chemnitzer auch mal etwas anderes zu sehen als Dresden oder Leipzig. Das Einzige, was mir bei Tagestrips in den Kopf kommt, wären Erfurt oder Berlin. Beide immerhin in zwei bis vier Stunden per Zug erreichbar. Bei München oder Hamburg bin ich aber schon bei vier bis fünf Stunden, vorausgesetzt, es gibt keine Verspätung à la Deutsche Bahn.
Also doch im Osten bleiben. Wie wär’s mit Nordthüringen? Da wohnen ja immerhin Freunde von mir, vielleicht also mal ein Trip dahin. Kurz nach der Strecke geschaut: Ach, vier Stunden mit dem günstigeren Nahverkehr, über Leipzig.. Außer ich schaffe meinen Vier-Minuten-Anschluss in Erfurt nicht, dann sind es fünf (Q1.1). Wenn ich ein Auto hätte, wäre ich schon in zwei Stunden am Ziel (Q2).
Wenn ich an Erfurt denke, denke ich in dem Kontext an schnelle Anbindungen mit dem Fernverkehr nach Bayern oder an die Nordsee. Warum hat Chemnitz nicht so eine Anbindung? Ein großer Player in dieser Geschichte ist das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 8 (VDE 8), das eine Schnellbahnstrecke zwischen Nürnberg und Berlin realisieren sollte (Q3). Die Möglichkeit, die Trasse über Gera und Leipzig zu bauen, welche indirekt auch Zwickau und Chemnitz mit Nürnberg und München verbunden hätte, bestand in den 1990ern (Q4). Der Vorschlag stand jedoch in Konkurrenz zum Verlauf über Erfurt, der sogenannten „Erfurt-Beule“, die letztlich umgesetzt wurde (Q3, 4). Damit wurden Chemnitz und das Umland abgehängt. Bis heute fehlen direkte Bahnanbindungen in westdeutsche Metropolregionen.
Auch kleinere Gemeinden sind in den letzten Jahren zunehmend abgehängt worden. Zahlreiche Strecken, über 5.400 km (Stand 2018), wurden nach der Wende von der 1994 gegründeten Deutschen Bahn AG stillgelegt (Q5). Aber schon davor stellte man schrittweise Verbindungen ein. Betroffen war zum Beispiel der Ort Kalbe (Milde), der ab 1991 keinen Bahnanschluss mehr hatte und 2020 nur noch indirekt über den ÖPNV an Magdeburg als nächstgelegene Großstadt in Sachsen-Anhalt angebunden war (Q6). Das Interesse an halbwegs intakten Bahnverbindungen schwand nach der Privatisierung der Bahn, da viele Strecken sinkende Nutzerzahlen verzeichneten (Q13).
Demographisch gesehen zeigt sich, was passiert, wenn Orte schwer erreichbar sind, oder schon der Weg hinaus zur Hürde wird, sodass man kaum wiederkommen möchte. Zahlreiche Gemeinden, besonders im Osten, verlieren durch den demographischen Wandel immer mehr Einwohner (Q7.1). Dabei zieht es gerade junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren vom Land in die Großstadt (Q7.2). Dass große Städte besser erreichbar sind als kleinere Gemeinden, lässt sich zumindest als Indikator werten, dass ein Zusammenhang zwischen Mobilität und Abwanderung der jungen Generation besteht. Immerhin ist Mobilität insofern ein zentraler Faktor, als dass sie beispielsweise die Lebensqualität und die soziale Teilhabe beeinflusst (Q8.1). Gleichzeitig steht die Erreichbarkeit von Ausbildung, Schulen und Arbeitsplätzen im Mittelpunkt, so das BBSR und das IAB mir gegenüber. Ich als Schüler kann selbst sagen, dass ich, wie viele andere, auf Bahn und Bus angewiesen bin, um die Schule zu erreichen, da Führerschein und Auto in der Regel recht teuer sind. Wichtig zu erwähnen ist aber auch, dass Mobilität kein alleiniger Faktor für die Abwanderung ist. Eine allgemein gute Nahversorgung spielt hier ebenso eine wichtige Rolle (Q8.2).
Politisch gesehen kann in Regionen mit allgemein schlechter Infrastruktur eine höhere Zustimmung zu rechtspopulistischen Parteien auftreten. Gerade in den neuen Bundesländern ist das zu beobachten. Infrastrukturen von besonderem öffentlichen Interesse, wozu in der Regel auch der ÖPNV gehört, gelten als Daseinsvorsorge, da sie wichtig sind, um am öffentlichen Leben teilhaben zu können. Der Staat hat sich zur Sicherung dieser Daseinsvorsorge verpflichtet. Das Gefühl in den oben genannten Regionen, abgehängt worden zu sein, spiegelt sich heute zum Teil in den Wahlergebnissen wider (Q9).
Was also tun? Und wie lassen sich mögliche Lösungen umsetzen?
Für Chemnitz und das Vogtland lohnt es sich natürlich nicht mehr, die VDE 8 neu zu bauen. Erfurt hat als Landeshauptstadt Thüringens stark profitiert, mit direkten Verbindungen und einfacheren Möglichkeiten nach München, Nürnberg, Berlin, Hamburg, in die Alpen sowie an Nord- und Ostsee. Das ist natürlich in jeder Hinsicht gut für diese ostdeutsche Region (Q1.2).
Aber was ist nun mit dem Süden Sachsens?
Ganz hoffnungslos sieht es für den Freistaat nicht aus: Die Mitte-Deutschland-Verbindung ist hier das Stichwort. Sie führt vom Rheinland über Thüringen nach Sachsen. Der Abschnitt Weimar – Gößnitz in Thüringen soll elektrifiziert und zweigleisig ausgebaut werden (Q10). Damit wird die Region um Chemnitz besser an Erfurt angebunden, und die Chance auf ein Fernzugangebot in den Westen rückt in greifbare Nähe (Q10.1). Die Fertigstellung ist voraussichtlich bis 2030 geplant (Q10).
Ebenfalls möglich, wenn auch komplex, wäre die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken, um wieder mehr Nahverkehr auf die Schiene zu bringen. Orte würden von einer besseren Anbindung an die Städte profitieren, insbesondere in Bezug auf Bevölkerungsstabilisierung und ‑wachstum (Q11; 13). Weniger komplex, aber gesellschaftlich wertvoll, wäre eine Taktverdichtung im Busverkehr. Regelmäßige Verbindungen zwischen Dörfern und Städten wären zwar wirtschaftlich kaum lukrativ, hätten aber einen hohen sozialen Nutzen, etwa, um Schulen oder Arztpraxen besser zu erreichen. Als gutes vorangehendes Beispiel: der Azubi-Shuttle in Bayern, der Orte mit schlechtem ÖPNV an Ausbildungsstätten anbindet (Q12). Solche Ansätze könnten hoffentlich dazu beitragen, dass sich das politische Klima in die Mitte bewegt. Vor allem aber muss man sich dann irgendwann nicht mehr denken: Ich komm hier nicht raus.
Quellen:
Q1.1‑Deutsche Bahn, Fahrplanauskunft auf www.bahn.de ; Stand November 25
Q2- Apple Karten; Stand November 25
Q3-https://www.vde8.de/de/projekt/geschichte
Q4-https://youtu.be/agGWxLa9rjI?si=82qq2AYMMSWHQweo
Q5-https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/deutsche-bahn-deutsche-bahn-hat-16-prozent-ihrer-schienen-stillgelegt‑1.4268351# Stand 2018
Q8.1 so das BBSR in einer privaten Antwort
Q8.2 so das IAB in einer privaten Antwort
Q9-https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn069601.pdf
*Dieser Beitrag ist im Rahmen einer eintägigen Jugendredaktion entstanden. *
Die mobile Jugendredaktion ist Teil des Projekts nah:dran – Medien für alle. Im Mittelpunkt stehen die Themen, Wünsche und Anliegen junger Menschen aus strukturschwachen Regionen. Ziel ist es, ihnen eine Plattform zu bieten und ihre Perspektiven in der Medienlandschaft sichtbar zu machen. Das Projekt wird im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!” durch das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert.
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