Früher vogel­frei, heute frei wie ein Vogel – Von der neu gewon­nenen Frei­heit einer Afghanin in Deutsch­land

Datum
12. Januar 2024
Autor*in
Leonie Forth
Redaktion
politikorange
Thema
#Leben
Zohra steht lächend im Englischen Garten in München, Deutschland.

Zohra steht lächend im Englischen Garten in München, Deutschland.

Zohra steht lächend im Englischen Garten in München, Deutschland. Foto: Leonie Forth
Zohra weiß, wie sich die Blicke der Taliban anfühlen. Vor mehr als zwei Jahren ist sie aus Afgha­ni­stan nach München geflohen und hat dabei ihre Familie zurück­ge­lassen.

Zohra weiß, wie sich die Blicke der Taliban anfühlen. Vor mehr als zwei Jahren ist sie aus Afgha­ni­stan nach München geflohen, um dem rigo­rosen Regime zu entkommen, und hat dabei ihre Familie zurück­ge­lassen. Die junge Frau erzählt vom schlimmsten Moment ihres Lebens, erklärt, warum Deutsch­land sich trotz der neuen Frei­heit noch nicht wie ihr Zuhause anfühlt und weshalb Vögel ihrer Meinung nach femi­nis­ti­scher sind als Menschen. Ein Portrait.

Es ist der 15. August 2021. Zohra, ihre Mutter und vier ihrer Schwes­tern sitzen nach­mit­tags im Wohn­zimmer ihrer Miet­woh­nung auf dem Teppich und schauen fern. Bilder von Männern in Gewän­dern und schwarzen Kopf­be­de­ckungen nehmen den Bild­schirm ein. Mit Sturm­ge­wehren bewaffnet, rollen sie in ihren Trucks durch die Städte. Es ist überall in den Nach­richten zu sehen: Die Taliban haben in Afgha­ni­stan die Macht über­nommen. Der afgha­ni­sche Präsi­dent Aschraf Ghani ist zurück­ge­treten und ins Ausland geflohen.

Zohra erlebt den schlimmsten Moment ihres Lebens. Sie ist scho­ckiert, kann es nicht fassen. Ihr erster Gedanke: Ich darf nicht mehr in die Schule gehen. Und auch nicht Fahr­rad­fahren“. Die tonnen­schweren Autos der Taliban kommen im Fern­sehen immer näher. Gleich­zeitig fühlt es sich für Zohra so an, als würde sich ihr kost­barstes Gut, die Frei­heit, immer weiter von ihr entfernen.

Vier Tage später steht die 18-Jährige am Flug­hafen Kabul – hinter ihr ein Stachel­draht­zaun, vor ihr ein Meer aus Menschen, die alle ein Ziel haben: raus aus Afgha­ni­stan. Die Sicher­heits­kräfte versu­chen, die Menschen­massen mit Tränengas zurück­zu­drängen. Dabei fällt Zohra in Ohnmacht und bleibt am Stachel­draht­zaun hängen, sodass ihr Hemd reißt. Zum Glück war es nur mein Hemd“, sagt sie. Ihr Blick geht, während sie davon erzählt, kurz ins Nichts, bis sie sich mit einem Lachen zurück in die Wirk­lich­keit holt.

Heute lebt die junge Afghanin in München. Sie ist dankbar, dass sie nie aufge­geben hat. Auch nicht in Momenten wie damals am Flug­hafen, als sie kurz mit dem Gedanken gespielt hat, doch in Afgha­ni­stan zu bleiben. Ihr Begleiter, ein Kollege der Hilfs­or­ga­ni­sa­tion Abasha“, hatte sie damals gefragt: Willst du in diesem Gefängnis leben?“. Diese Frage hatte sie umge­stimmt. Sie hatte an das Fahr­rad­fahren gedacht, an Bildung, an Selbst­be­stim­mung. An Frei­heit. Bei Zohra führen alle Wege in die Frei­heit. Ihre Lieb­lings­farbe ist Blau. Blau wie der Himmel. Wenn ich in den Himmel schaue, dann sehe ich da keine Barriere. Ich sehe Vögel, die frei fliegen“, erklärt sie.

Am besten ließe sich die Weite des Himmels bei einem Spazier­gang im Engli­schen Garten genießen. Allein unterm blauen Himmel zu flanieren, das mache ihren Kopf frei. So könne sie wieder klar denken. Und Denken ist für sie eine Art Hobby. Denken hat sie gerettet, als ihre Trau­mata sie voll im Griff hatten. Das ist viel­leicht schwer zu glauben, aber ich habe nach meiner Ankunft in München zwei Wochen lang unun­ter­bro­chen geweint“, erzählt Zohra fast sach­lich und mit fester Stimme. In ihren Gesichts­zügen lässt sich keine Trauer ablesen. Nicht mehr.

Die erlebten Trau­mata hat sie zusammen mit einer Thera­peutin verar­beitet. Und zusammen mit ihren Gedanken. Denn Trauer geht sie prag­ma­tisch an: Sie fragt sich, was die Ursache ist. Ist die Frage geklärt, über­legt sie sich, was sie konkret dagegen tun kann. Und dann tut sie das. Ganz logisch. Zohra beschließt, das Gute in ihrer Situa­tion zu sehen und das unver­än­der­liche Schlechte hinzu­nehmen. Sie ist ihrem Motto Go with the flow“ treu geblieben, das in dicken Lettern auf ihre Tasche gedruckt ist und sie daran erin­nert: Mit Problemen muss man eben klar­kommen.

Freunde finden im Land der Sand­kas­ten­freunde

Nun liegt ihr in Deutsch­land die Frei­heit zu Füßen. Oder zumin­dest in der Nähe, irgendwo in den Tiefen des Büro­kratie-Dschun­gels versteckt. Dort hat sie sich mühe­voll durch­ge­schlagen, beispiels­weise um sich ihren Aufent­halts­titel zu erkämpfen. Ihr erschlossen sich Möglich­keiten, die ihre Familie in Afgha­ni­stan nicht hat. Ihre Nichte hat in Afgha­ni­stan die sechste Klasse absol­viert. Was passiert jetzt? Muss sie heiraten? Eine Familie gründen?“, fragt Zohra. Sie scheint auf eine Antwort zu warten. Doch da liegt nichts als Hilf­lo­sig­keit und einem Hauch schlechten Gewis­sens in der Luft, weil sie ihre Familie zurück­ge­lassen hat.

Neben den zahl­rei­chen Möglich­keiten warten in Deutsch­land viele neue Menschen auf sie. Das mit dem Freunde-Finden sei aber gar nicht so einfach. Zumin­dest nicht in Deutsch­land. Hier hat sie gelernt, alleine glück­lich zu sein. Deut­sche sind nicht so offen gegen­über anderen Menschen“, sagt sie und meint mit anderen Menschen“ Ausländer*innen. In Afgha­ni­stan sei das nicht so. Man könne sehr schnell echte Freund­schaften schließen. Deut­sche bevor­zugen Sand­kas­ten­freunde“, stellt Zohra fest. Sie inte­griert sich, erwartet aber auch, dass gegen­sei­tiges Inter­esse für die Kultur und Verständnis herrscht. Mitt­ler­weile habe sie zwar Bekannte getroffen. Dost“ heißt das auf Afgha­nisch. Aber einen rafiq“, also eine*n Freund*in hat sie hier noch nicht. Bei einem rafiq“ fühlt man sich zuhause, das sei der Unter­schied.

Zohra hält einen Vortrag über Nowroz, das afghanische Neujahr. Foto: Privat

Zohra hält einen Vortrag über Nowroz, das afghanische Neujahr. Foto: Privat

Ihre Freunde sollten sie verstehen, ihr Tipps geben und aktiv sein. Denn Zohra war immer aktiv. Heute arbeitet sie beim gemein­nüt­zigen Verein Migra­tion macht Gesell­schaft“ und enga­giert sich im Vorstand des Jugend­ver­bands heimaten-Jugend“. Sie will anderen helfen. Dabei ist ihr vor allem der Bereich Migra­tion wichtig, weil sie weiß, wie es sich anfühlt, fremd zu sein. Als sie auf der Flucht war, habe sie Hilfe erhalten. Diese möchte sie jetzt zurück­geben.

Endlich Frei-Sein

Ihrem Bruder kann sie nicht helfen. Der ist schon vor 2021 aus Afgha­ni­stan nach Indo­ne­sien geflohen. Dort bekommt er keinen Aufent­halts­titel, kann folg­lich nicht arbeiten und lebt von den 100 Euro, die Zohra ihm jeden Monat schickt. Dabei hat sie selbst nur die 450 Euro ihres Mini­jobs und bekommt ledig­lich ein biss­chen Hilfe vom Staat. Ich hatte immer Angst, dass mein Bruder Suizid begeht, das sieht man häufiger in den Nach­richten, weil es so schwierig ist, Flücht­ling zu sein“, erzählt sie. Ihre Stimme stol­pert, sie fängt sich aber schnell wieder.

Trotz alledem habe er in Indo­ne­sien eine bessere Lebens­qua­lität als in Afgha­ni­stan. Schließ­lich gäbe es dort keine Taliban. Zohra nennt sie Angst­ma­cher. Oder: die Männer, vor denen man einfach weg möchte. Denn das seien Menschen, die alles mit einem machen können, weil sie ihre eigenen Regeln haben. Vor ihnen sei sie schutzlos gewesen – quasi vogel­frei. In Indo­ne­sien gäbe es auch keine Explo­sionen auf den Straßen. Die hat Zohra vor der Macht­über­nahme der Taliban ohne ihren Bruder erleben müssen: Wenn man sein Zuhause verlassen hat, wusste man nicht, ob man wieder zurück­kehren wird“, erklärt sie. Nach der Macht­über­nahme hat Zohra ihr Zuhause gar nicht mehr verlassen. Deshalb liebt sie die Frei­heit. Weil sie so lange einge­sperrt war. Und deshalb geht sie so gerne an ihre Grenzen. Weil sie es kann. Weil in Deutsch­land keine Steine fliegen, sondern höchs­tens Kritik. Ihr Fahrrad hat ihr das Frei-Sein beigebracht.

Diese Frei­heit fand sie in München erst wieder im Skate­park. Ich habe dort kleine Kinder gesehen, die hinge­fallen sind, aber nicht geweint, sondern gelacht und weiter­ge­macht haben“, erin­nert sie sich. Das tut sie auch, immer weiter­ma­chen. Schließ­lich hat sie ein Ziel vor Augen. Sie will Chir­urgin werden. Auch wenn die Noten zurzeit noch nicht ganz stimmen. Sie geht in den Vorbe­rei­tungs­kurs vor der elften Klasse der Fach­ober­schule und hält es nicht für unmög­lich ist, dass sich ihr Noten noch verbes­sern. Das schaff ich schon“, sagt sie und ist über­zeugt.

Sie schaut in den grauen November-Himmel, wo hinter der dichten Nebel­decke Gren­zen­lo­sig­keit zu herr­schen scheint. Wenn ich Vögel am Himmel sehe, möchte ich auch fliegen. Die sind freier als wir und haben auch keinen Sexismus“, sagt sie. Aber dann gewinnt die Realistin in ihr die Ober­hand: Vögel sind zwar frei, aber haben trotzdem auch Probleme. Außerdem müssen die ja auch mal landen.“ Es fängt an zu schneien und Zohra zittert. Lächelnd verab­schiedet sich sie, sie müsse noch lernen. Zuhause warten ihr Fahrrad und ihre Frei­heit.


Dieser Artikel ist im Rahmen der offenen Redak­tion entstanden. Bei Fragen, Anre­gungen, Kritik und wenn ihr selbst mitma­chen mögt, schreibt uns eine Mail an redaktion@​jugendpresse.​de 


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