Cringe, weg mit dem Bull­shit!“

Datum
20. Oktober 2020
Autor*in
Lukas Siebeneicker
Redaktion
politikorange
Themen
#politischkritischjung 2020 #Medien
Twitter_Lukas_Brett Jordan_unsplash.com

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Foto: Brett Jordan / unsplash.com

Radi­ka­li­sie­rungs­ma­schine und Thema in den Feuil­le­tons der Repu­blik: Twitter ist die Platt­form für poli­ti­schen Akti­vismus. poli­ti­ko­range-Redak­teur Lukas Sieben­ei­cker hat mit zwei Userinnen gespro­chen.

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Viel besprochen und kaum genutzt: Twitter hat in Deutschland nur ca. 2 Millionen aktive Nutzer*innen | Foto: Brett Jordan / unsplash.com

Es gibt da diese Platt­form Twitter, auf der auch Donald Trump, Elon Musk und Kanye West aktiv sind, wir haben auch jeder schon fünf­zig­tau­sendmal dort rein­ge­schrieben und disku­tieren mit Leuten, die einen Garten­stuhl als Profil­bild haben, über Politik“, sagte einmal Kurt Prödel, einer der bekann­testen Twitter-User*innen. Doch Twitter ist mehr als das. Es ist auch der Ort für alle, die aktiv am tages­ak­tu­ellen poli­ti­schen Diskurs mitwirken wollen. Dass daraus auch ganze Bewe­gungen entstehen können, zeigten Ende 2017 bzw. Anfang 2018 Hash­tags wie #metoo und #metwo. Meine Inter­view­part­ne­rinnen Rachel und Özge sind seit dieser Zeit dabei. Sie haben mit ihrer Bildungs­ar­beit und ihrem Akti­vismus die deut­sche Twitter-Szene geprägt.

Warum seid ihr bei Twitter aktiv, was moti­viert euch weiter­zu­ma­chen?

Rachel: In erster Linie möchte ich über das Judentum aufklären. Das geht am besten über Twitter, weil man dort am schnellsten viel Reich­weite gene­rieren kann. Es ist ein schönes Gefühl, wenn die eigene Arbeit wert­ge­schätzt wird. Diese Bildungs­ar­beit ist aber auch drin­gend notwendig, weil jüdi­sche Menschen so viel Igno­ranz von der weißen, christ­li­chen Mehr­heits­ge­sell­schaft erleben. Am stärksten konnte man die kürz­lich bei der Rede des Minis­ter­prä­si­denten von Sachsen-Anhalt an Yom Kippur in Halle spüren. Er sagte tatsäch­lich: Der Anschlag wäre nicht passiert, wenn es mehr Versöh­nung gäbe“. Ich war fassungslos, wütend und verzwei­felt – als wäre der Anschlag oder die Shoah die Schuld jüdi­scher Menschen gewesen.

Özge: Twitter ist für mich nicht nur Politik. Die Gemein­schaft und die Möglich­keit, nur Witze zu machen sind mir auch wichtig. Und wenn ich viel Feed­back auf Tweets bekomme, die mir am Herzen liegen, freut mich das sehr. Trotzdem schafft das Digi­tale eine Barriere zu den Leuten. Es ist nicht das Gleiche wie auf einer Demo inmitten von Gleich­ge­sinnten zu stehen, die genauso aufge­bracht sind wie du.

Bezeichnet ihr euch als Akti­vis­tinnen?

Rachel: Inzwi­schen schon. Mir fällt es als Jüdin nur schwer, mich voll­ständig als linke Akti­vistin“ zu bezeichnen. Solange Anti­se­mi­tismus in der linken Szene exis­tiert, geht das kaum.

Özge: Bei mir war das auch eine Entwick­lung. Am Anfang war ich mir nicht sicher, ob ich mich so nennen würde. Doch dann habe ich gemerkt, dass es ein sehr offener Begriff ist. Du machst aktiv poli­ti­sche Arbeit? Dann bist du Aktivist*in.

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Feminismus und Percy Jackson: Rachel studiert Lehramt in Köln und schreibt eine Kolumne für den Newsletter der Journalistin Sibel Schick | Foto: Privat

Wollt ihr Menschen mit eurer Bildungs­ar­beit radi­ka­li­sieren?

Özge: Ja, schon. Radi­ka­li­sieren‘ klingt von außen betrachtet nur nach der Extre­mis­mus­theorie: Als gäbe es eine gute Mitte und alle anderen an den poli­ti­schen Rändern seien radikal und böse. Auf jeden Fall werden die Gene­ra­tionen, die mit Social Media aufwachsen, viel poli­ti­scher sein als die davor. Mit 15 war ich, im Gegen­satz zu meinen Klassenkamerad*innen, schon total poli­ti­siert. Das war frus­trie­rend, so allein zu sein.

Rachel: Das ist der Neben­ef­fekt. Man hat durch meine und andere Bildungs­ar­beit die Möglich­keit, mehr über unter­drü­ckende Struk­turen in der Gesell­schaft zu erfahren. Wenn das Menschen radi­ka­li­siert, dann nicht ohne Grund.

Jan Böhmer­mann hat ein Buch mit seinen Tweets heraus­ge­bracht. Ist das pein­lich?

Özge: Ich habe zwei Antworten darauf. Die erste, instink­tive wäre: Cringe, weg mit dem Bull­shit.‘ Muss man ein Buch zusammen copy-pasten und das für 22,00 € veröf­fent­li­chen? Wenn ich das meinem Vater erklären müsste, wäre mir das pein­lich. Zwei­tens denke ich mir aber auch, dass das schließ­lich der Job der Feuilletonist*innen ist. Die müssen über kultu­rell rele­vante Dinge spre­chen und so etwas ist ein span­nendes Zeit­zeugnis.

Rachel: Nein, ich finde das nicht pein­lich. Ich spreche aller­dings auch aus der Perspek­tive einer Buch-Blog­gerin, die sich mit Algo­rithmen der Sozialen Medien auskennt. Als solche lebe ich quasi davon, mich mit anderen auszu­tau­schen. So sind Soziale Medien nicht nur die Platt­form, auf der ich Bild­chen von meinem Essen teilen kann. Es ist ein ernst­haf­terer Zugang. Deshalb finde ich es nicht schlecht, wenn Twitter auch im Feuil­leton bespro­chen wird. Böhmer­manns Idee ist mir aber zu einfach. Ich habe schon ein schlechtes Gefühl, wenn ich Screen­shots von meinen Tweets auf Insta­gram hoch­lade.

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Radikal links: Özge studiert Jura in Berlin und hat eine Kolumne bei mission-lifeline.de. | Foto: Privat

Ihr beide folgt auch dem Lyriker und Sach­buch­autor Max Czollek auf Twitter. In seinem neuen Buch Gegen­warts­be­wäl­ti­gung“ zeigt er auf, wie wichtig es ist, die Viel­falt unserer Gesell­schaft radikal anzu­er­kennen und sichtbar zu machen. Seht ihr das auch als eure Verant­wor­tung und Aufgabe?

Rachel: Ja! Die Reprä­sen­ta­tion aller Menschen­gruppen der Gesell­schaft in Kultur und Medien ist sehr wichtig. Ich lese gerne Jugend­li­te­ratur. Da merke ich schon, dass viel in Rich­tung Diver­sität passiert. Ich habe letz­tens einen Tweet gelesen, in dem eine Person erzählt, dass sie sich als gender­fluid [sich zwischen den Geschlech­tern männ­lich – weib­lich bewe­gend, Anm. d. Red.] geoutet hat. Das Geschwis­ter­kind meinte dann nur: Ah okay, wie Alex Fierro in Rick Riordans Magnus Chase‘. Was sind deine bevor­zugten Pronomen?“. Das ist das, was Reprä­sen­ta­tion mit den Kids macht. Sie verbinden dieses Merkmal nicht mehr mit einem histo­risch gewach­senen Stereotyp, sondern mit einer Roman­figur. Das trägt letzt­end­lich dazu bei, dass sich diese Klischees auflösen. Das ist so cool!

Özge: Natür­lich sind Viel­falt und Reprä­sen­ta­tion wichtig. Doch das reicht allein nicht aus. Viele bürger­li­chen Feminist*innen und Antirassist*innen lassen die Klas­sen­frage außen vor. Als Kommunist*innen müssen wir deshalb immer wieder darauf aufmerksam machen, dass z. B. Rassismus eben im Kapi­ta­lismus eine Funk­tion erfüllt. Warum werden rumä­ni­sche Saisonarbeiter*innen wie der letzte Dreck behan­delt? Mit Deut­schen könn­test du das niemals machen, die haben Arbeitnehmer*innenrechte. Warum haben die Rumän*innen die nicht? Weil das ein rassis­ti­sches System ist. Wer das nicht beachtet, betreibt bloß Lobby­ar­beit für sich selbst. Ich habe Abitur und kann ordent­lich Deutsch, ihr dürft mich nicht behan­deln wie einen Ausländer‘, das ist diese Denk­weise. Das ist doch kein Anti­ras­sismus. Das ist Lobby­ar­beit für Türk*innen mit Abi.

Rachel: Wir haben alle eine Verant­wor­tung, die Bildungs­ar­beit zu leisten, die wir können. Wenn ich rassis­ti­sche Aussagen in meiner Familie höre, dann spreche ich das an. Klar sind das unan­ge­nehme Gespräche, doch das gehört dazu. Noch mehr Verant­wor­tung haben aller­dings weiß-christ­liche Deut­sche. Wegen ihrer Vorfahren haben Fami­lien wie meine ein enormes gene­ra­ti­ons­über­grei­fendes Trauma. Wir sind die Opfer der Shoah. Weiß-christ­liche Deut­sche sollten sich wenigs­tens damit ausein­an­der­setzen und unsere Bildungs­ar­beit in Anspruch nehmen. Zusammen können wir die Krisen der Gegen­wart bewäl­tigen.

Dieser Beitrag ist im Rahmen eines gemein­samen Projekts von sagwas​.net und poli​ti​ko​range​.de entstanden.

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