Argen­ti­nien, 1985: ein Land stellt seine Mili­tär­dik­tatur vor Gericht

Datum
04. Januar 2023
Autor*in
Yasmin Orouji
Redaktion
politikorange
Thema
#Leben
T_Argentinien_1985_YO

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Film­kritik: Zwei Jahre nach dem Fall der Mili­tär­dik­tatur in Argen­ti­nien werden die Verant­wort­li­chen 1985 vor Gericht gestellt. Sant­iago Mitres neuer Film erzählt von den Hürden, Gerech­tig­keit in eine neue Demo­kratie zu bringen.

Als der zweite Welt­krieg ein Ende nahm, stand Deutsch­land vor der schwie­rigen Aufgabe, sich mit seiner dunklen Vergan­gen­heit ausein­an­der­zu­setzen. Nach dem Krieg musste das Land wieder neu aufge­baut, aber auch die musste Demo­kratie neu aufge­stellt werden. Um das zu errei­chen war es notwendig, die Menschen zur Verant­wor­tung zu ziehen, die die Verbre­chen während des Krieges begingen. Die Sieger­mächte stellten die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kriegs­ver­bre­cher vor Gericht, denn ihre Vergehen durften nicht in Verges­sen­heit geraten. Die Nürn­berger Prozesse waren der Grund­bau­stein, auf denen sich Demo­kra­tien stützen konnten: Menschen­rechts­ver­let­zungen mussten vor Gericht gebracht werden.

Vier Jahr­zehnte später stellte sich Argen­ti­nien einer ähnli­chen Heraus­for­de­rung. Während der sieben­jäh­rigen Diktatur wurden argen­ti­ni­sche Bürger*innen entführt, gefol­tert und im Geheimen ermordet. Nach dem Ende der Mili­tär­dik­tatur 1983 wurden die verant­wort­li­chen Gene­räle vor ein Zivil­ge­richt gestellt, obwohl viele Anhänger*innen der Diktatur der Meinung waren, die Gene­räle hätten nichts Verwerf­li­ches getan. Sant­iago Mitres Film, im Oktober auf Amazon Prime erschienen, stellt sich der Frage: wie kann man in einer brüchigen Demo­kratie die Opfer der Diktatur gedenken?

Der Regis­seur Sant­iago Mitre war selbst noch ein Kind, als die Mili­tär­dik­tatur zu Ende ging. Das Dreh­buch zu schreiben hat ihn zurück in seine Kind­heit gebracht, in die 1980er, als die Verant­wort­li­chen zur Rechen­schaft gezogen wurden. Der Prozess wurde 1985 im Fern­sehen über­tragen, im Film selbst sind einige Ausschnitte davon zu sehen. Mitre hat Argen­ti­nien, 1985 beim Film­fest in Hamburg vorge­stellt und sich beson­ders auf das Erin­nern bezogen, als er über diesen Film disku­tierte: Ich hoffe, dieser Film dient auch dazu, die kollek­tive Erin­ne­rung zu stärken.“ Bevor Sant­iago Mitre anfing, das Dreh­buch zu schreiben, wurden er und sein Co-Dreh­buch­autor Mariano Llinás sich darüber bewusst, dass man in der argen­ti­ni­schen Gesell­schaft kaum noch etwas von dem Prozess gegen die Mili­tär­junta – also die Mili­tär­re­gie­rung – wusste. Gerade deswegen ist Argen­ti­nien, 1985 von großer Bedeu­tung.

Argen­ti­nien in den 1980ern

Das Vorhaben des Staats­an­walts Julio Stras­seras ist eigent­lich schon vorab geschei­tert. Er und seine Familie werden von Unbe­kanntem bedroht die verlangen, dass er den Prozess beendet. Trotz wach­sender Bedro­hung stellt er ein Team bereit, welches dasselbe Ziel verfolgt wie er: die Gene­räle zu verur­teilen. Obwohl das Land erst vor Kurzem zur Demo­kratie zurück­ge­kehrt ist, sind einige der Meinung, dass Jorge Rafael Videla, Chef der Mili­tär­junta, dem Land geholfen habe. Die Mutter seines Kollegen Luis Moreno Ocampo geht in dieselbe Kirche wie Videla und ihre hohe Meinung von ihm hat sich durch den Prozess nicht verän­dert. Andere Gene­räle durften mit ihrem Leben so weiter­ma­chen, als ob nichts passiert in den sieben Jahren der Diktatur passiert wäre. Sie gehen auf Partys, ohne dass die Leute sie weniger verehren.

In den 1980ern war Demo­kratie in Latein­ame­rika ein seltenes Gut. In Chile, Argen­ti­niens Nach­bar­land, stand die Mili­tär­dik­tatur noch auf festen Füßen und das Militär entführte und erfor­derte weiterhin Bürger*innen, die kritisch gegen­über der Diktatur waren. Dasselbe passierte auch in Brasi­lien, dessen Diktatur erst Ende der 80er zu Ende ging. Es war unge­wöhn­lich, die Verant­wort­li­chen einer Diktatur vor einem zivilen Gericht zu stellen. Im Film bemühten sich die Gene­räle, vor einem Mili­tär­ge­richt verur­teilt werden, welches mit Sicher­heit viel glimpf­li­cher mit ihnen umge­gangen wäre. Aber diese Bitte wurde ihnen verwei­gert.

Die neun Gene­räle auf der Ankla­ge­bank

Stras­sera und Ocampos Vorhaben war von Anfang an zum Schei­tern verur­teilt. Ohne die wich­tigen Aussagen der Zeug*innen hätte niemand in Argen­ti­nien erfahren, wie die Opfer der Diktatur entführt, verge­wal­tigt und gefol­tert wurden. Insge­samt wurden 833 Zeugen­aus­sagen gesam­melt, die auch für die Nach­welt ein wich­tiges Doku­ment sind. Trotz wach­sender Drohungen verkro­chen sich die Zeug*innen nicht und erzählen dem Gericht ohne Einschrän­kung, was die Soldaten ihnen angetan haben.

In dem Film kommt die Zeugin Adriana Calvo de Laborde – gespielt von Laura Paredes – zu Wort, und erzählt wie sie gezwungen wurde, ihr Kind mit verschlos­senen Augen auf die Welt zu bringen. Ihr Schicksal spie­gelt das von vielen Frauen wieder, die während der Diktatdur entführt wurden: Die schwan­geren Frauen haben ihre Kinder nie gesehen, denn diese wurden von den Soldaten einfach zur Adop­tion frei­ge­geben. Es sind die Aussagen von Fami­lien, die durch den Tod ihrer Ange­hö­rigen Jahre leiden mussten, die das wahre Gesicht der Mili­tär­junta zeigt. Durch die Tapfer­keit der Opfer kann das ganze Land von ihren Schick­salen erfahren, und wenige Meter von den Opfern entfernt sitzen die Gene­räle und müssen sich anhören, was ihre Regie­rung jahre­lang den Menschen in Argen­ti­nien angetan hat.

Die Erin­ne­rung an die Diktatur

Von diesem Prozess hing mehr ab, als nur die Verant­wort­li­chen ins Gefängnis zu stecken. Anders als die Nürn­berger Prozesse, die von den Sieger­mächten ange­führt worden, stellte sich die Mili­tär­junta vor den eigenen Lands­leuten. Damit die demo­kra­ti­sche Zukunft Hoff­nung haben konnte, benö­tigten sie diesen Prozess. Über zehn­tau­send Argentinier*innen sind während der Diktatur verschwunden, bis heute wissen die Hinter­blie­benen nicht, wo sie sich befinden. Der Prozess gab dem Land eine Chance, sie nicht zu vergessen. Das Gericht verur­teilt alle Gene­räle zu Haft­strafen, der Anführer der Junta, Jorge Rafael Videla, muss lebens­lang ins Gefängnis.

Auch wenn die Diktatur Jahr­zehnte zurück­liegt, zeigt der Film, dass Verbre­chen nicht in Verges­sen­heit geraten dürfen. In dem Ukraine-Krieg zum Beispiel wird von Kriegs­ver­bre­chen der russi­schen Armee berichtet. Auch hier gilt es, nicht zuzu­lassen, dass die Verant­wort­li­chen ohne Strafe weiter­leben.

Für den Regis­seur Sant­iago Mitre bedeutet der Film mehr, als nur den Gerichts­pro­zess wieder­zu­geben. Bis heute wollen Argentinier*innen wissen, was mit denen passiert ist die entführt worden sind. Das ist sehr wichtig, damit Gesell­schaften nicht in alte Muster oder alte Fehler verfallen.“, meint Sant­iago Mitre. Argen­ti­nien, 1985 zeigt den Zuschauer*innen, dass die Gene­räle nicht damit durch­ge­kommen sind. Aber nach 1985 geht der Kampf weiter. Die Mili­tär­junta wurde verur­teilt, aber keine anderen verant­wort­li­chen Poli­zisten oder Soldaten. Bis heute wurde eine Mehr­heit der Opfer nicht gefunden. Die Orga­ni­sa­tion Madres de Plaza del Mayo kümmert sich seit 1979 darum, dass die Erin­ne­rung an die Opfer, die nie gefunden wurden, erhalten bleibt.

Argen­ti­nien, 1985 – Nie wieder“: Sant­iago Mitre, Argentinien/​USA 2022, 140 Minuten, auf Amazon Prime verfügbar

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